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Außen & Europa

Warum der Rechtsstaatsmechanimus ein Geschäftsmodell bedroht

Polen und Ungarn blockieren den nächsten EU-Haushalt aus Protest gegen den vereinbarten Rechtstaatsmechanismus. Aus gutem Grund: Er würde das Fundament ihrer illiberalen Ordnung im Kern in Frage stellen.

Die Europäische Union, aufgebaut auf dem Fundament der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, wird seit ihrem Anbeginn als reines Wirtschaftsprojekt dargestellt und diffamiert. Tatsächlich ist der EU-Binnenmarkt der größte gemeinsame Wirtschaftsraum der Erde. Dass die etwa 450 Millionen Bürger*innen der EU von Euro und Zollunion gebunden werden, gehört jedoch zu den bedeutendsten Irrglauben mancher politischen Akteure. Gemeinsame Werte und Normen bilden seit jeher die Grundpfeiler der EU und sind zu gleicher Zeit Grund und Legitimation für ihre kontinuierliche Vertiefung und Integration. Frans Timmermans, niederländischer Sozialdemokrat und Vizepräsident der Europäischen Kommission, macht deutlich, dass die drei Grundprinzipien des Staatenbundes Demokratie, die Achtung des Rechtsstaats und vor Menschenrechten sind und sein müssen. Dieser Konsens schwindet. Mit Polen und Ungarn liebäugeln gleich zwei Mitgliedsstaaten mit autokratischeren Regierungsformen und blockieren mit einem Veto zum Billionen schweren EU-Haushalt und den dringend benötigten Corona-Hilfen den vereinbarten Rechtsstaatmechanismus. Aus nachvollziehbaren Gründen: Zum ersten Mal hätte die Gemeinschaft ein effektives Werkzeug zur Handhabe und Sanktionierung von institutionalisiertem antidemokratischem Verhalten.

In Polen regiert die rechtsnationalistische PiS-Partei mit absoluter Mehrheit und setzt nach und nach eine Justizreform durch, die die Unabhängigkeit des Gerichtssystems frontal angreift. Kritische Richter*innen können nunmehr mit Geldstrafen und Disziplinarmaßnahmen belegt werden, sollten sie generelle Kritik an Entscheidungsprozessen äußern. Für die polnische Regierung, informell angeführt von Parteivorsitzendem Jarosław Kaczyński, ist diese Reform von elementarer Bedeutung um ungestört ihr Ziel von einem kulturell homogenen und national-religiösen Polen umzusetzen. Die Auswirkungen dieses rückwärtsgewandten Denkens spüren sexuelle Minderheiten und Frauen schon heute. Mehr als hundert polnische Gemeinden bezeichnen sich als „LGBTQ-freie Zonen“ in einer öffentlichen Hetzkampagne auf gleichgeschlechtlich liebende Menschen. Eine erst kürzlich beschlossene neue Richtline für Schwangerschaftsabbrüche macht Abtreibungen, selbst im Falle schwerer Missbildungen von Föten, unmöglich und schafft das Recht jeder Frau auf körperliche Selbstbestimmung de facto ab.

Auch in Ungarn schreitet Viktor Orbán in seinem Umbau des Landes zu einem illiberalen Staat voran. Die unabhängige Central European University wurde durch antisemitisch geprägte Schmähung nach Wien vertrieben, während das Recht auf freie Forschung und Lehre weiter eingeschränkt wird. Eine neue Verfassung definiert die Ehe als Bund zwischen Mann und Frau und verneint homosexuellen Paaren dadurch die Ehe. Derweil setzt Orbán seinen Raubzug von EU-Geldern fort und versorgt vertraute Eliten und Oligarchen mit einem scheinbar nicht endendem Geldfluss aus Brüssel.

Doch dieses Geschäftsmodell könnte in naher Zukunft ein Ende finden. In Ungarn und Polen sorgt man sich zurecht vor dem historischem Rechtsstaatsmechanismus, der es der Gemeinschaft ermöglichen würde, Subventionen an Regierungen zu unterbinden, die demokratische Grundnormen der Rechtsstaatlichkeit und damit die gemeinsamen Werte der Union unterminieren. Dies würde effektiv die Pfeiler der pseudo-autokratischen Regierungen in diesen Ländern angreifen. Für den Umbau des Staats hin zu einem illiberalen, diskriminierenden und gleichgeschalteten Gebilde benötigen die Entscheider durch EU-Gelder erkaufte Unterstützung der lokalen Eliten. So profitiert Orbáns Freund aus Kindertagen und reichster Mann Ungarns, Lőrinc Mészáros , in perversem Maße von europäischem Haushaltsgeld. Wie investigative Recherchen belegen, werden 99 Prozent der Staatsaufträge, die sein Hauptunternehmen erhielt, durch EU-Mittel bezahlt. Doch eine Hand wäscht wie so oft die andere. Als Dank werden unabhängige Medien von reichen Systemprofiteuren aufgekauft und sichern so einen Grad an gesellschaftlichen Rückhalt in der Bevölkerung und tragen zur Langlebigkeit eines korrupten Systems bei. Die Werte, auf denen die Union seit Jahrzehnten aufbaut und deren Respekt beim Eintritt versprochen wurde, schwinden in Polen und Ungarn seit geraumer Zeit.

Der nach Jahren der Verhandlungen vereinbarte Mechanismus zum Einhalt der Rechtsstaatlichkeit ist geeignet um dieser besorgniserregenden Entwicklung Einhalt zu gebieten. Seine Verabschiedung im Europäischen Rat macht deutlich, dass der Schutz von demokratischen Normen eine der Hauptaufgaben der EU in der Zukunft sein muss. Die Konditionalität von gemeinsamen EU Geldern ist das einzige Mittel, um ein auf europäischem Haushaltsgeld basierendes und demokratiefeindliches System aufzubrechen. Denn wie das Europäische Parlament schreibt, sind die fundamentalen Werte der Union Respekt für die Freiheit, Demokratie und den Rechtsstaat: „Diese Grundwerte vereinen alle Mitgliedsstaaten – kein Land, das dies nicht anerkennt, kann zur Union gehören.“. Um diesem Bekenntnis gerecht zu werden, muss der Rechtsstaatsmechanismus zum sine-qua-non des nächsten EU-Haushalts werden. 27 Jahre, nachdem die Europäische Union auf Basis gemeinsamer Werte gegründet wurde, braucht und verdient sie nun die Möglichkeit eben diese zu verteidigen.

Von Julius

Julius ist 20 Jahre alt und studiert Politikwissenschaften in Amsterdam. Er ist seit 2018 in der SPD und ist im Internationalen Ortsverband gemeldet. In Brüssel aufgewachsen setzt er sich für eine tiefer integrierte Europäische Union ein. Besonders interessiert ist er an Europa- und Außenpolitik.

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