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Gesellschaft

Stolz und Vorurteil – Pride ist nicht zum Wohlfühlen da

Über das christliche Abendland erheben sich im Juni die Regenbögen: dort eine Fahne, hier eine Illumination und wieder woanders ein Firmenlogo, das einen Monat lang in Regenbogenfarben die Solidarität mit der LGBTQ*-Community ausdrücken soll. Das ist – verglichen mit vor nur ein paar Jahren – ein großer Fortschritt, doch den vielen Zeichen müssen Taten folgen.

Als vor ein paar Jahren zum ersten Mal einige Unternehmen sowie Kommunen und andere Organisationen begannen, ihre Gebäude mit Pride-Flags zu beflaggen, war das für viele Menschen aus dem queeren Spektrum eine bedeutungsvolle Geste. Es hieß nämlich nicht weniger als vielerorts zum ersten Mal sichtbar gemacht zu werden und das Gefühl vermittelt zu bekommen, in einer Stadt zu leben, in der jene Werte geteilt werden, die für die Akzeptanz nichtheterosexueller Menschen so elementar ist. Unternehmen und Kommunen begannen, aktiv Vielfalt zu bewerben und setzten Statements gegen Diskriminierung. Von Jahr zu Jahr engagieren sich dabei immer mehr Organisationen. Das ist eine höchst erfreuliche Entwicklung, denn wenn eines bei dem Thema elementar ist, dann ist es Sichtbarkeit. Vielen jungen Menschen, die sich ihrer Sexualität noch nicht klar sind, wird das in ihrem inneren Prozess helfen. Alleine dafür ist jede Pride-Flag ein Gewinn: für die betroffenen Menschen, aber auch für uns als Gesellschaft.

Eine graue Republik

Denn es waren die Fahnen und die Illuminationen und auch die Held*innen in Serien oder Filmen, die fehlten, wenn Menschen in den letzten Jahren und Jahrzehnten in Deutschland aufwuchsen und bemerkten, dass sie sich sexuell nicht (nur) zum anderen Geschlecht angezogen oder sie sich gar im falschen Körper geboren fühlten. Erschreckender ist dabei, dass erst vor 28 Jahren der Paragraph 175, der gleichgeschlechtliche Beziehungen und Handlungen zwischen Männern verbot und strafrechtlich verfolgte, vollends gestrichen wurde. Die staatliche Verfolgung und Stigmatisierung homosexueller Männer in der Bundesrepublik hinterließ bei den betroffenen Männern Narben, die bis heute an diese dunkle Zeit erinnern.

Glücklicherweise hat sich seit 1994 einiges getan, wenn auch langsamer als für ein modernes Land möglich. Erst 2017 beschloss der Deutsche Bundestag die Ehe für Alle – die SPD brach den Koalitionsfrieden und stimmte mit Grünen, Linken und Teilen der Union für eine Öffnung der gleichgeschlechtlichen Ehe. 2017 noch stimmte die damalige Kanzlerin Angela Merkel gegen den Gesetzentwurf, was an Symbolkraft gegenüber der LGBTQ*-Community nicht zu unterschätzen war.

Noch heute ist aus Studien klar ersichtlich, dass queere Menschen ein deutlich erhöhtes Risiko haben, an Depressionen und anderen psychischen Krankheiten zu leiden. Während jeder zehnte heterosexuelle Mensch im Laufe seines Lebens an einer depressiven Krankheit leidet, ist es bei Menschen aus der LGBTQ*-Community jede vierte Person. Besonderes trans* Menschen fallen in den Daten einer Studie des DIW sofort auf: 39% der befragten Personen gaben an, von Angststörungen und anderen psychischen Krankheiten betroffen zu sein. Der Grund seien dabei Diskriminierungserfahrungen sowie die Angst vor dem Outing und den damit einhergehenden Konsequenzen.


Diese Erfahrungen führen dazu, dass das Suizidrisiko bei nichtheterosexuellen Jugendlichen um das bis zu sechsfache erhöht ist im Gegensatz zu heterosexuellen Jugendlichen. Auch hier haben trans* Jugendliche das höchste Risiko, Selbstmord zu begehen. Diese Daten sind nicht nur Mahnung, sondern größte Warnung, dass aktiv gehandelt werden muss.

Gewalt an LGBTQ*-Personen

Dass Rechte hart erkämpft werden müssen, spüren insbesondere alle trans* Menschen in Deutschland, die erniedrigende Prozeduren über sich ergehen lassen müssen, ehe amtliche Personenstandsänderungen und letztlich auch geschlechtsanpassende Therapien und Operationen vorgenommen werden dürfen. Die Ampel möchte dabei unter anderem, dass keine psychiatrischen Gutachten mehr nötig sind, in welchen den betroffenen Personen höchst intime, zum Teil völlig unangemessene Fragen gestellt werden, auf deren Basis es dann erst zu einer Beurteilung kommt, von der ausgehend erst weitere Schritte ergriffen werden können: ein quälender Prozess, der bei den Menschen Spuren hinterlässt. Noch dieses Jahr soll mit dem Selbstbestimmungsgesetz das Leben vieler betroffener Menschen erleichtert werden. Denn was bei rechtlichen Diskussionen nicht in den Hintergrund geraten darf: es stecken Menschen hinter diesen Geschichten, die nach Jahren der Selbstverneinung, dem Hoffen auf Heilung und diskriminierenden Erfahrungen ein Recht in Deutschland haben müssen, so unkompliziert und dennoch angemessen betreut wie möglich anpassende Maßnahmen vornehmen zu können. Ebenso möchte die Ampel-Regierung die Lücken beim Verbot der „Konversionsbehandlungen“ schließen und das Blutspendeverbot für homosexuelle Männer abschaffen – auch das sind bedeutungsvolle Schritte, die über ihre Grenzen hinweg strahlen. Außerdem soll das Abstammungsrecht reformiert werden, das bis heute noch Regenbogenfamilien und ihre Kinder diskriminiert, da bspw. rechtlich nicht zwei Mütter oder Väter für ein Kind verantwortlich sein können. Das Grundgesetz soll im Gleichbehandlungsartikel „um ein Verbot der Diskriminierung wegen sexueller Identität“ erweitert werden und ein „Nationaler Aktionsplan für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“ eingeführt werden, der unter anderem Aufklärung in Schulen stärken sowie Unternehmen im Diversity Management stärken soll.

Pride ist nicht zum Wohlfühlen da

Der Artikel macht die Notwendigkeit eines Pride-Months deutlich. Doch das allein reicht nicht. Es muss politisch, aber auch gesellschaftlich für jedes Recht und gegen jede Diskriminierung gekämpft werden – in Deutschland scheitert es nicht am Geld. Als ich letztes Jahr im Ehrenamt eine Schule besuchte, um über Homophobie aufzuklären, war das für mich eine besondere Erfahrung. Doch mir fehlt eine pädagogische Ausbildung, das Know-How, wie man solche Themen am besten vermittelt und – das kommt mit dem Berufsleben dazu – zunehmend die Zeit, an einem Vormittag so etwas an einer Schule anbieten zu können. Dass Unternehmen Flagge zeigen, ist ein riesiger Fortschritt im Vergleich zu früheren Zeiten, doch die gesellschaftliche Debatte über die Haltung dieser Unternehmen ist richtig, wenn sie gleichzeitig in Staaten operieren, in denen Homosexuelle mit dem Tode bestraft werden oder die Unternehmen gleichzeitig Parteien finanzieren, die aktiv gegen Minderheitenrechte kämpfen. Pride ist keine Veranstaltung, um das eigene PR-Image aufzubessern. Noch heute leiden so viele Jugendliche und Menschen in Deutschland und der gesamten Welt unter Diskriminierung, trauen sich nicht, sich zu outen, weil ihnen der Rausschmiss von Zuhause oder Gewalt im eigenen Land droht. Diese Gewalt ist real, sie ist existent. Noch heute trauen sich kaum homosexuelle Fußballspieler, während ihrer Karriere offen mit ihrer Sexualität umzugehen, da diese das Ende ihrer Laufbahn bedeuten könnte. Jeden Abend sitzt irgendwo ein junger Mensch, der sich denkt, es sei besser, tot zu sein als homo-, bi- oder transsexuell. Jeden Tag bringt sich irgendwo ein Mensch aufgrund seiner Sexualität um oder wird Opfer von Gewalt. Im Pride-Month müssen wir darüber reden. Das sind wir all den betroffenen Menschen schuldig.

Von Joel

Joel ist 21 Jahre alt, lebt in Wolfsburg und studiert Integrierte Sozialwissenschaften in Braunschweig. Seit 2017 ist er in der SPD und gehört seitdem auch der SPD-Fraktion Wolfsburg an. Politische Erfahrung durfte er als Werkstudent sowohl im Niedersächsischen Landtag, als auch bei einem großen Mobilitätsdienstleister sammeln. Interessant findet er Wirtschaft, Digitales und Gesellschaft.

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