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Gastartikel Grundsätzliches

Arbeitskampf bei Lieferando – Was wollen die eigentlich?

Kaum eine Branche drängt sich dem öffentlichen Leben und unserer Wahrnehmung momentan so sehr auf wie die der Lieferdienste. Es vergehen keine fünf Minuten in der Innenstadt, in denen nicht ein*e gehetzte*r Fahrradkurier*in, wahlweise in schwarz, orange, pink oder türkis gekleidet, in Windeseile an einem vorbeirauscht. Auch die mediale Berichterstattung lässt nicht lange auf sich warten, wenn mal wieder ein Skandal publik wird oder eine der genannten Farben ihre Arbeit zum Streik niederlegt, was nun mal alle drei bis vier Wochen passiert. Ein Anlass für deutsche Medienhäuser, die redaktionseigenen E-Bikes zu entstauben, um für zwei Stunden eine Schicht zu begleiten, damit man später glaubwürdiger schreiben kann, was man ohnehin schon schreiben wollte: „Ja, die Arbeitsbedingungen sind WIRKLICH nicht so gut“. Aber was heißt es, wenn wir von „Arbeitsbedingungen“ reden und wie sind sie denn nun? Was wollen die bei Lieferando eigentlich?

Also, hier zum Mitschreiben:  Wir – das sind Riderinnen und Rider bei Lieferando, sowie die Gewerkschaft NGG – wollen einen Tarifvertrag, der folgendes beinhaltet: 15€ Basislohn, sechs Wochen bezahlten Urlaub, ein 13. Monatsgehalt, volle Bezahlung der letzten Fahrt nach Hause, sowie Wochenend- und Feiertagszuschläge. Und wir wollen nicht mehr unsere Arbeitsmittel stellen müssen, aber das hat bereits das Bundesarbeitsgericht geregelt. Um diese Forderungen öffentlich kundzutun, zog es uns gemeinsam mit der Gewerkschaft NGG am vorletzten Freitag vor das Lieferando-Headquarter in Berlin. Warum sollten ungelernte Lieferando-Fahrer*innen so viel Geld und so viele Vorteile erhalten? Wer sich gerade bei diesem Gedanken erwischt hat, sollte den Artikel besser bis zum Ende lesen. Alle anderen sind herzlich dazu eingeladen! Um die Forderungen zu verstehen, müssen wir zunächst auf das Gesamtkonstrukt hinter Lieferando.de bzw. dessen Muttergesellschaft Just Eat Takeaway schauen.

Lieferando in Deutschland

Lieferando.de ist eine Marke, dahinter steht einerseits die yourdelivery GmbH und die Takeaway Express GmbH, sie sind Tochtergesellschaften von Just Eat Takeway. Die Plattform Lieferando.de wird von yourdelivery betrieben, über die jeder Bestellprozess abgewickelt wird. Hier „konkurrieren“ Restaurants um die Gunst der Kund*innen. Rund 92% der Gerichte, die bestellt werden, liefern die gelisteten Restaurants selbst aus. Die Plattform Lieferando fungiert damit lediglich als Vermittler und erhält dafür rund 13% Provision. Über die Arbeitsbedingungen der Fahrer*innen, die für Restaurants Lieferando-Bestellungen ausliefern, kann man nur spekulieren. Diejenigen Restaurants, die keinen eigenen Lieferservice haben, können auf die Logistiksparte von Lieferando zurückgreifen, was die Takeaway Express GmbH ins Spiel bringt. Bei ihr sind Rider*innen direkt angestellt, welche die restlichen 8% der Gerichte ausliefern, die über die Plattform bestellt wurden. Für diesen Dienst erhält Lieferando 30% Provision. Wenn wir also von Lieferando-Fahrer*innen oder „Rider*innen“ sprechen sind damit all diejenigen gemeint, die direkt bei Lieferando angestellt sind und deren Kernaufgabe darin besteht, Essen für eine Vielzahl an Restaurants auszuliefern. Das umfasst allein in Deutschland rund 10.000 Fahrer*innen in über 60 Städten. Auch Betriebsräte können maximal diese 10.000 Beschäftigten vertreten.

Die Arbeitsbedingungen

Als Angestellte, erhalten wir seit dem 01.01.2022 einen Stundenlohn von 11€ pro Stunde + Bonus (davor 10€), sind krankenversichert, bekommen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, vier Wochen bezahlten Urlaub und neuerdings auch ein Dienstfahrrad und ein Diensthandy. Ein*e Vollzeitfahrer*in erhält rund 2300€ Brutto, diese Rechnung enthält Basislohn + Bonus. Das mag in dieser Branche im internationalen Vergleich fast Luxus sein und auch verglichen mit den Anfangszeiten bei Deliveroo und Foodora ist das ein enormer Fortschritt. In Deutschland geht man damit allerdings einer prekären Beschäftigung nach. Oder anders gesagt: Das Geld reicht nicht zum Leben. Man unterscheidet grundsätzlich zwischen Hub-Cities, wo die firmeneigenen Pedelecs zur Verfügung gestellt werden und Ansprechpartner*innen arbeiten und Remote-Cities, wo Rider*innen ihr eigenes Fahrzeug stellen müssen und die Kommunikation zu Verantwortlichen deutlich schwieriger ist. Die Nutzung des eigenen Fahrzeugs wird seit ungefähr einem Jahr mit 14 Cent Verschleißpauschale pro gefahrenen Kilometer kompensiert. Rechnet man den Anschaffungspreis und das Verlustrisiko mit ein, ist auch das zu wenig.

Mehr als die Hälfte der Beschäftigten sind mit einem Fahrrad oder einem Roller unterwegs und damit jeder Witterung ausgeliefert. Wir fahren bei 0° und Regen aber auch bei 30° und praller Sonne. Die Qualität der Ausrüstung ist gelinde gesagt umstritten. Sie hält Regen ab und hilft gegen die Kälte. Zumindest für ein paar Stunden. Manchmal sind die Jacken und Rucksäcke eben kaputt. Die firmeneigenen Pedelecs sind mittlerweile größtenteils verkehrstauglich bzw. werden recht schnell ausgetauscht, falls sie es nicht sind. Aber auch das passierte erst nachdem die zuständigen Betriebsräte auf erhebliche Mängel hinwiesen, die die Rider*innen in Gefahr brachten. Die Kernarbeitszeiten sind unter der Woche von 11:30 Uhr – 22:30 Uhr, an Wochenenden und Feiertagen von 12:00 Uhr – 22:30 Uhr, also hauptsächlich dann, wenn Familie und Freunde Freizeit haben oder die Kinder nicht in der Schule sind. Zuschläge für das Arbeiten an Sonn- und Feiertagen bzw. spät am Abend gibt es keine. Es muss grundsätzlich zwischen Minijobber*innen und Teil- bzw. Vollzeitkräften unterschieden werden. Wer zwei Mal in der Woche eine Schicht über vier Stunden fährt, kann den Job noch als sportliche Aktivität sehen. Wer hingegen mehrere Tage in der Woche bis zu neun Stunden Essen liefert, ist viel eher einer psychischen oder physischen Gefährdung ausgesetzt. Die potenziellen Gefahren sind vielfältig. Wer mit einem Zweirad fährt, ist dem Straßenverkehr fast schutzlos ausgeliefert und zieht im Falle eines Unfalls meist den Kürzeren. Beim Autofahren aber ebenso auf dem Fahrrad läuft man Gefahr, sich langfristig den Rücken kaputt zu fahren, indem man eine ungesunde Rückenhaltung einnimmt oder den teils schweren Rucksack zu lange trägt. Bereits nach wenigen Stunden lässt die Konzentrationsfähigkeit nach, was wiederum die Unfallgefahr erhöht. Hinzu kommt der ständige psychische Stress durch Straßenlärm, andere Verkehrsteilnehmer*innen, rote Ampeln, zugestellte Wege, Baustellen, Parkplatzsuche usw. Sporadischer Kontakt zu Restaurantmitarbeiter*innen und Kund*innen soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass man fast die ganze Zeit allein ist. Das alles kann auf Dauer sehr zermürbend sein.

Wie funktioniert das Liefergeschäft bei Lieferando?

Zur Veranschaulichung stellen wir uns eine durchschnittliche Bestellung im Wert von 20€ vor. Wenn Lieferando allein 30%, also sechs Euro erhält, muss die Frage erlaubt sein, wer hier überhaupt profitiert. Die Antwort lautet: niemand so wirklich. Restaurants klagen über die zu hohe Provision und Lieferando macht mit jeder Bestellung, die von den eigenen Rider*innen ausgeliefert werden ca. 4,50€ Verlust. Wie wir im Folgenden sehen werden, ist diese Zahl jedoch mit Vorsicht zu genießen, weil hier Dinge nicht miteinberechnet wurden, deren Preis man nicht bestimmen kann, die aber das Geschäft mit den eigenen Rider*innen umso wertvoller machen.

Zum einen sind wir so etwas wie fahrende Litfaßsäulen. Die dadurch eingesparten Werbekosten lassen sich nur schwer ermitteln, dürften die Kosten pro Bestellung aber ein wenig schmälern. Zum anderen verfügt Lieferando durch die Aufrechterhaltung eines eigenen Lieferbetriebs bereits über eine enorm wichtige Infrastruktur, die flexibel einsetzbar ist, sollte man versuchen, neue Geschäftsbereiche zu erobern. Mit dem eignen Lieferservice bringt man außerdem mehr kleinere Restaurants auf die Plattform, was mit einer größeren Auswahlmöglichkeit einhergeht. Tatsächlich sorgt diese vergrößerte Auswahl dafür, dass mehr Menschen die Plattform besuchen.  Ein letzter und wichtiger Vorteil ergibt sich aus der großen Konkurrenz auf dem Liefermarkt. Es ist aus strategischen Gründen sinnvoll, oder sogar unabdingbar, das Liefergeschäft der Restaurants zu bedienen. Eine Plattform zu betreiben und einen Lieferservice anzubieten, sind zwei vollkommen verschiedene Bereiche. Ermöglicht man es nun der Konkurrenz, das reine Liefergeschäft zu übernehmen, erleichtert man ihr damit den Einstieg in den Markt. Damit droht Lieferando der Verlust von Marktdominanz und dem Verlust des eigentlich profitablen Geschäftsbereichs, nämlich der reinen Plattform. Zur Erinnerung: Über 92% des bestellten Essens liefern Restaurants selbst aus. Die 13% Provision, die der Konzern dafür erhält, landen beinahe ohne Abzüge in den eigenen Taschen, da hier kaum zusätzliche Kosten anfallen. Das gleicht den „Verlust“ mit der Liefersparte mehr als aus. Der abschließende Bericht für 2021 wird erst Anfang März veröffentlicht aber laut dem Jahresbericht 2020 verzeichnete Just Eat Takeaway mit Lieferando.de einen Gewinn (vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen) von 125 Millionen Euro. Die Gesamtzahl der Bestellungen über die Plattform stieg von 112,2 Millionen im Jahr 2020 auf 159,7 Millionen im vergangenen Jahr, damit dürfte der diesjährige Gewinn noch höher ausfallen.

Worum geht es hier also?

Wir wissen nun, dass Just Eat Takeaway als globales Unternehmen spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Konsumänderung Gewinne einfährt, die im dreistelligen Millionenbereich liegen. Wir haben gelernt, dass Lieferando auf die eigene Fahrer*inneflotte angewiesen ist. Die Rider*innen machen aber nicht nur einen wichtigen, sondern einen ebenso gefährlichen wie einsamen Job mit irregulären Arbeitszeiten und schlechter Bezahlung. Und damit nicht genug. Ähnlich wie Amazon ist Lieferando ein online Marktplatz mit Logistik-Sparte. Jeder Prozess muss so zeitsparend wie möglich ablaufen. Ein kurzer Kaufvorgang, eine schnelle Lieferung, ja keine Lebenszeit verschwenden. Dabei sind Onlinekäufe längst kein Trend mehr, sondern viel eher eine unumkehrbare Entwicklung im Kaufverhalten. Die beispiellose Geschichte des Onlineversandhändlers Amazon und das ständige Auftauchen neuer Lieferdienste für nahezu jedes Produkt, zeigen die Dimensionen und das Potenzial der Lieferlogistik. Für das Bestellen und Liefern von fertigen Gerichten ist Lieferando in Deutschland Marktführer und längst ein etablierter Arbeitgeber. Das wird sich so schnell nicht ändern. Daher wird es Zeit, sich an ebenso etablierte Regeln, Gesetze und Mitbestimmungsrechten zu halten und einen Lohn nach Tarif zu bezahlen.

Ein Tarifvertrag würde ein wichtiges Zeichen setzen und die Konkurrenz unter Zugzwang bringen. Er wäre ein Bezugspunkt für all diejenigen, die wie wir Essen liefern aber bei Restaurants angestellt sind. Ein Tarifvertrag bei Lieferando könnte ein Feuer entfachen, das auf die gesamte Branche übergreift und diese in eine geregelte Arbeitswelt überführt. Um das zu erreichen, benötigen wir eine möglichst hohe Zahl an Gewerkschaftsmitgliedern im Unternehmen. Die Ausgangsbedingungen hierfür sind denkbar schlecht. Eine hohe Zahl an Minijobber*innen, die ständige Fluktuation der Arbeitnehmer*innen und ein hoher Grad an Unkenntnis über die eigenen Rechte machen uns diese Aufgabe nicht leicht. Aber wir sind erst am Anfang und wir werden erst aufhören, wenn die Tinte unter dem Tarifvertrag trocken ist. Bis dahin werden wir sehen, was das Arsenal an Arbeitskampfmethoden noch zu bieten hat.

Von Lukas Frey

Lukas ist 24 Jahre alt und studiert Sportwissenschaft und Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart. Mit Sport und Politik beschäftigt er sich auch bei Lieferando, dort arbeitet er seit drei Jahren als Fahrradkurier und engagiert sich im Stuttgarter Betriebsrats. Er ist außerdem Mitglied der SPD und der Gewerkschaft NGG.