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Grundsätzliches

Eine unvollständige Geschichte

Seit einem Jahr befinden wir uns in einer globalen Pandemie, die jedem Menschen unheimlich viel abverlangt. Einschränkungen der Kontakte, der Freizeitgestaltung und der Berufsausübung von Millionen Menschen sind notwendig, um die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 einzudämmen. Eine nationale Kraftanstrengung wird es gerne genannt. Für die einzelnen Bürger*innen mag das auch stimmen, allerdings wird hierbei nicht konsequent im Verhältnis zwischen den verschiedenen Handlungsfeldern gearbeitet. Ein Artikel über eine unvollständige Corona-Politik.

Am 27. Januar 2020 wurde in Deutschland der erste Fall des neuen Virustyps SARS-CoV-2 diagnostiziert; Betroffener ist ein Mitarbeiter der Firma Webasto, der Kontakt zu einer Kollegin aus dem chinesischen Wuhan hatte. Ihm folgen weitere Arbeitskolleg*innen, die sich ebenfalls mit der Krankheit infizieren, die bis heute unter dem Namen COVID-19 das ganze Land in Atem hält. Was darauf folgte ist allen bekannt: Einschränkungen sowie Ge- und Verbote, um die Bevölkerung vor dem Virus zu schützen. Nachdem die erste Welle erfolgreich niedergerungen wurde, leben wir seit dem vergangenen November wieder mit weitgehenden Beschränkungen. Ge- und Verbote zwecks Bekämpfung der Pandemie gehören spätestens seit diesem Zeitpunkt wieder zum Alltag eines jeden von uns – doch viele Bürger*innen tauchen an mehreren Tagen in eine Welt ein, die sich von einer verschärfenden Krise eher wenig betroffen zeigt: Ihr Arbeitsumfeld.

Ein Vergleich

Im Spätsommer 2020 sahen wir uns mit der Herausforderung konfrontiert, dass die Zahlen stiegen und die Sorglosigkeit, die viele im Sommer an den Tag gelegt hatten, sich nun rächte. Ende Oktober dann beschloss man einen „Wellenbrecher-Lockdown“ und damit die weitgehende Schließung von Gastronomie, Hotellerie und vielen anderen Bereichen der Freizeitgestaltung. Ziel war es, den Anstieg und durch Nachverfolgung die weitere Ausbreitung zu begrenzen. Als dies nicht den gewünschten Erfolg brachte, griff man wieder zu altbewährten Mitteln der Kontaktbeschränkungen – im privaten und öffentlichen Raum. Ein effektives Mittel, jedoch auch mit nicht zu unterschätzenden Nebenwirkungen. Das Arbeitsumfeld in den noch geöffneten Branchen wird jedoch nicht in einem solchen Maße erfasst. So sind Büropräsenz, Meetings und Dienstreisen weiter zulässig, während man überlegen muss, in welchen Konstellationen man seine Eltern oder andere wichtige Bezugspersonen besuchen darf. Eine Schieflage.

Die bisherigen Regelungen zur Kontaktreduktion in Betrieben und Unternehmen wirken angesichts der massiven Reglementierung des privaten Lebensbereiches der Bürger*innen nahezu alibimäßig. Während man auf der einen Seite mit Verordnungen und Bußgeldern arbeitet, setzt man beim Homeoffice oder bei der Testung der Belegschaft auf „Freiwilligkeit“ und „Selbstverpflichtung“. Man sei „im Dialog“. Ein Hohn für diejenigen, die Zuhause in Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, im Homeschooling oder Homestudying sitzen und sich nichts mehr wünschen, als dass auch sie irgendwann wieder ein Stück Normalität in ihrem Alltag erleben.

Zahnlose Tiger

Schon während des Verlaufs der zweiten Welle hatte die SPD eine Verpflichtung zum Homeoffice gefordert. In der ersten Welle gab es eine hohe Quote von Menschen, die daheim arbeiteten – ein effektives Eindämmungsmittel. Durch das Arbeiten von Zuhause werden Infektionsketten am Arbeitsplatz und auf dem Arbeitsweg (insbesondere im ÖPNV) effektiv unterbunden. Schon in der zweiten Welle zeigte sich jedoch der Trend, dass die Option zum Arbeiten in den eigenen vier Wänden nicht mehr in dem Maße angeboten und abgerufen wird, wie das noch im vergangenen Frühjahr der Fall war. Eine Homeoffice-Pflicht schien hier die Möglichkeit zu sein, das pandemische Geschehen am Arbeitsplatz überall dort zu unterbrechen, wo eine Präsenz nicht möglich war. Leider ließ sich dies nicht durchsetzen, der politische Unwille in der Union war zu groß. Erst nach langem Ringen erzielte man eine Regelung, die zwar besser war als nichts, jedoch von vorneherein unzureichend war. So hatten nun Arbeitnehmer*innen das Recht, Homeoffice einzufordern, wo dies möglich war. So delegierte man die Auseinandersetzung an die Beschäftigten, sich mit ihrem ggf. widerstrebenden Unternehmen auseinandersetzen zu müssen – eine Auseinandersetzung, die mit Sicherheit nicht jeder gerne führte. Das Potential zur Mobilitätseinschränkung, das vom ifo Institut auf 55 Prozent beziffert wird, bleibt weitgehend ungenutzt. 1https://www.cesifo.org/en/publikationen/2020/working-paper/germanys-capacities-work-home

Mit der Massenverfügbarkeit von Schnelltests wiederholte sich diese Geschichte in den vergangenen Wochen. Statt Betriebe zu verpflichten, ihre Belegschaft mindestens zwei Mal in der Woche zu testen und somit Cluster aufzudecken und gegebenenfalls zu verhindern, setzte man hier nach der letzten Ministerpräsidentenkonferenz erneut auf Freiwilligkeit seitens der Wirtschaft. Eine Selbstverpflichtung von gut zwei Drittel der Betriebe läge ja bereits vor, insbesondere der neugewählte CDU-Vorsitzende war laut Medieninformationen einer der entschiedensten Gegner einer verbindlichen Regel. Das ernüchternde Ergebnis: Nur rund 69 Prozent bieten bis Mitte April eine Möglichkeit an, sich testen zu lassen 2https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/wirtschaftsgipfel-tespflicht-unternehmen-101.html. Der zuständige Minister Altmaier will lieber „überzeugen“ statt verpflichten. An sich kein verwerflicher Ansatz, jedoch in Anbetracht der Sachlage und im Vergleich zu den (notwendigen) Maßnahmen an anderer Stelle schlicht zu dünn.

Es geht um Solidarität

Dieser Text taugt nicht dazu, den Stab über der Wirtschaft zu brechen. Eher ist das Gegenteil der Fall. Ich halte es für sehr richtig, zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich die Produktionsstätten und Arbeitsplätze offen zu halten. Es wird uns vermutlich später helfen, besser und schneller aus dem Tief herauszukommen, in das unsere wirtschaftliche Entwicklung in den vergangenen 14 Monaten gerutscht ist. Allerdings lässt ein Teil der geöffneten Betriebe an den oben genannten Stellen deutlich an Solidarität gegenüber der Gesellschaft und (noch viel greifbarer) den Unternehmen, die von Schließung betroffen sind, vermissen. Denn angesichts der Entwicklung und der langen Schließzeit einiger Branchen ist es derzeit faktisch ein großes Glück, seiner Geschäftstätigkeit nahezu ungehindert weiter nachgehen zu können. Zur Wahrheit gehört auch, dass viele Unternehmen an dieser Stelle sich vorbildlich verhalten und pragmatisch Test- oder Heimarbeitskonzepte auch ohne staatlichen Zwang implementiert haben. Leider reicht dieser Anteil nicht aus, sodass man nun ein verbindliches Regelwerk schaffen muss – mit genau derselben Konsequenz, mit der man aktuell das private und öffentliche Leben einschränkt.

Das fehlende Puzzleteil

In der Woche vor Ostern hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer sonntäglichen Talkshow sehr unzufrieden mit den Ministerpräsident*innen gezeigt. Man würde generell zu wenig tun, sie selbst würde gerne weiter gehen. An dieser Stelle muss sie sich fragen lassen, warum sie nicht weitergegangen ist in einem Bereich, in dem Bundesarbeitsminister Hubertus Heil immer wieder gefordert hat, mehr zu reglementieren. Während man über Ausgangssperren und noch schärfere Kontaktregeln diskutiert – deren Bewertung ich mir in diesem Artikel nicht anmaße – geht es im Bereich einiger Wirtschaftszweige immer noch um das Prinzip Hoffnung. Ja, das ist generell zu wenig. Ja, an dieser Stelle muss man weitergehen und zwar eigentlich sogar BEVOR man den Menschen in diesem Land, was ihr Sozialleben angeht, noch mehr zumutet. Es wird Zeit, dass wir endlich auch von den Betrieben, die sich bisher unsolidarisch gezeigt haben, dieselbe Ernsthaftigkeit bei der Pandemiebekämpfung erwarten, wie von den Bürger*innen dieses Landes an anderer Stelle. Hierfür sollte man folgende Punkte unbedingt in den Blick nehmen:

Homeofficepflicht

Homeoffice muss bis in den Sommer hin überall dort, wo es möglich, ist Pflicht werden. Keine Delegation mehr, sondern eine verbindliche Regel, die genau das vorsieht. Wo dies aus betrieblichen Gründen nicht oder nur teilweise möglich ist, muss dies mit Begründung schriftlich dokumentiert werden. Die Beweislast liegt hier beim entsprechenden Unternehmen. Hierfür bedarf es einer gesetzlichen Regelung, die schnellstmöglich, bestenfalls innerhalb der nächsten zwei Sitzungswochen, geschaffen wird.

Testpflicht bei Präsenz

Jede*r Beschäftigte muss zumindest die Möglichkeit erhalten, sich in oder durch seinen Betrieb zweimal pro Woche auf SARS-CoV-2 testen zu lassen, sofern sie*er in (Teil-)Präsenz arbeiten muss. Ab einer gewissen Betriebsgröße sollten diese Test durch vorab geschultes Personal oder unter deren Aufsicht durchgeführt und bescheinigt werden. So können Infektionsketten aufgedeckt sowie Cluster unterbrochen werden und mit der Bescheinigung können im späteren Verlauf bei testgestützten Lockerungen allgemeine Teststellen entlastet werden. Angesichts der massiven Kosten, die durch die aktuellen Maßnahmen entstehen ist die Frage der Finanzierung nachrangig zu betrachten. Hier braucht es eine pragmatische Lösung, die zwischen der Verantwortung der Arbeitgeber für den Arbeitsschutz und dem allgemeinen Interesse an einem verlangsamten Pandemiegeschehen die richtige Balance findet.

Kontaktnachverfolgung

In Betrieben mit Präsenz müssen Kontakte lückenlos dokumentiert werden, um eine wirksame und schnelle Nachverfolgung zu gewährleisten. Hierbei kommt es insbesondere auch auf die Mitwirkung der Unternehmen an, die ihre Mitarbeiter*innen bei positiven Tests ihrer Kolleg*innen eigenständig informieren und die Kontakte an die entsprechenden Gesundheitsämter, möglichst digital gestützt, weiterleiten.

Es gibt sicherlich noch viele weitere Maßnahmen, die an dieser Stelle sinnvoll sind und diskutiert werden müssen, z.B. die Clusterquarantäne, die bereits im vergangenen Herbst durch namhafte Virolog*innen wie Christian Drosten ins Gespräch gebracht wurden. Daher sind die genannten Punkte nicht als vollständig anzusehen, jedoch in meinen Augen die Eckpfeiler einer umfassenderen und vollständigeren Pandemiebekämpfung als wir sie gerade erleben. Die Debatte muss geführt werden und sie muss jetzt geführt werden.

Von Max

Max ist 27 Jahre, arbeitet für eine Bundesbehörde in München und studiert an der FernUni in Hagen nebenbei Politikwissenschaften, Verwaltungswissenschaften und Soziologie. Davor war er hauptberuflich für einen sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten tätig und hatte verschiedene ehrenamtliche Funktionen innerhalb der SPD, in der er seit 2012 Mitglied ist, inne. Seine Themen hier sind Außenpolitik (Schwerpunkt USA & Osteuropa), Arbeits- und Innenpolitik.

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