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Außen & Europa Gesellschaft

Das Scheitern der EU in der Flüchtlingskrise

Warum brennt in Moria die Hölle?

Es war der 9. September 2020, als in Moria die Hölle brannte. Einige der geflüchteten Menschen brannten das Camp aus Verzweiflung nieder. EU-Parlamentarier Erik Marquardt ist oft vor Ort. Der Grünen-Politiker erklärt, dass jedes noch so kleine Feuer in einem solchen Lager zu einer großen Katastrophe werden kann1https://www.tagesspiegel.de/politik/erik-marquardt-zur-situation-im-fluechtlingscamp-der-brand-in-moria-ist-eine-katastrophe-mit-ansage/26172586.html. Die Menschen standen vor dem Nichts. Sie hatten kein Dach über dem Kopf oder zumindest ein trockenes Zelt. Sie wurden obdachlos. Es existierte weder eine Essens- noch eine gesundheitliche Versorgung, geschweige denn eine Schulbildung war in Sicht. Sauberes Wasser war kaum vorhanden, wozu sie sowieso begrenzt Zugang hatten und ausreichende Hygiene war nun eine noch knappere Ressource.

Einige der Flüchtlinge leben bereits seit zwei Jahren auf den Inseln. Es stellt sich die Frage: Warum all das Leid und solch menschenunwürdige Zustände? Hat die Europäische Union hier versagt?

Eine Odyssee durch Blockaden

Die Antwort ist einfach: Das Dublin III-System blockiert das Asylsystem. Denn Dublin III regelt, dass eine geflüchtete Person in jenem Land, das sie zuerst betreten hat, Asyl beantragen muss. Darum müssen sich Tausende von geflüchteten Menschen in Griechenland aufhalten. Auch Länder wie Italien und Spanien sind damit unter Druck gesetzt.

Die Menschen sitzen über Monate und Jahre in einem Land fest und dürfen sich nicht fortbewegen. Seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 hat sich in den Lagern kaum etwas verbessert. Es entstanden mehr Probleme als Lösungen. Die Dublin-Verordnung der EU besagt, dass ein Mensch in jenem Mitgliedsstaat der Europäischen Union Asyl stellen muss, das er als erstes betreten hat. Die meisten Personen, die über das Mittelmeer vor Krieg und Folter flüchten, erreichen Europa über Griechenland und Italien. Die meisten von ihnen stranden, wenn sie nicht von der umstrittenen Frontex, die aufgrund von illegalen Zurückweisungen von schutzsuchenden Menschen auf Booten seit längerer Zeit in Kritik steht, aufgehalten werden, über die Türkei auf den griechischen Inseln2https://www.sueddeutsche.de/politik/europaeische-union-grenzschutzagentur-frontex-kritik-1.5198099. Dort müssen sie Asyl beantragen und solange warten, bis ihr Antrag entschieden ist. Als Dolmetscherin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weiß ich zu genau, wie dieses Prozedere verläuft. In Deutschland fußt das auf Sauberkeit und Präzision. Die Menschen haben wenigstens eine Unterkunft, Ernährung und Zugang zu sauberem Wasser. Auf den griechischen Inseln jedoch warten die Menschen auf ihre Antwort über eine lange Zeit und das im Winter bei Minusgraden, Schnee, Eis und Regen.

Ja, zurecht gibt man der „EU“ die Schuld. Aber die „EU“ besteht aus den Mitgliedsstaaten und dahinter stehen Völker und Zivilgesellschaften. „Wir schaffen das“ zieht 2021 nicht mehr. Denn Staaten wie Ungarn oder Polen wehren sich vehement dagegen, überhaupt eine geflüchtete Person aufzunehmen. Staaten, die selbst nicht zu den Reichsten gehören und von den Geldern der EU abhängig sind. Welch ein Paradox, oder? Während der deutschen Ratspräsidentschaft hatte Herr Seehofer, als zuständiger Innenminister, die Aufgabe, mit anderen Regierungschefs der Mitgliedsstaaten über die Verteilung der geflüchteten Menschen zu bestimmen. Es wurde über eine europaweite Reform des Asylgesetztes gestritten. Herr Seehofer, der die Fäden zog, war nicht erfolgreich und wollte weiterhin Vorprüfungen und Abschiebungen an den EU-Grenzen. Diese Vorprüfungen sorgen dafür, dass die Menschen weiterhin in geschlossenen Lagern festgehalten werden. Auf eine negative Vorprüfung folge eine Abschiebung und bei einer positiven Vorprüfung würden geflüchtete Menschen auf Länder in Europa verteilt werden, so Seehofers Vorschlag3https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-02/fluechtlingspolitik-bundesregierung-asylkonzept-reform-eu-asylsystem.

Nur gemeinsam entstehen sichere Häfen. Es geht nicht darum, wie viele Menschen die Bundesrepublik hätte aufnehmen können. Sondern eine europäische Lösung ist wichtig. Deutschland hat im Vergleich zu anderen Mitgliedsstaaten sehr viele Menschen aufgenommen und sehr viele unterstützt. Allein im Januar 2021 wurden in Deutschland laut BAMF 4.753 positive Entscheidungen von insgesamt 10.828 getroffen. Damit stieg die Gesamtschutzquote um 5,4% im Vergleich zu 20204https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/AsylinZahlen/aktuelle-zahlen-januar-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=2. Eine realistische Aufgabe für das volkswirtschaftlich stärkste und bevölkerungsreichste Land in der EU.

Jedoch ist das Verhältnis zu anderen Mitgliedsstaaten hervorzuheben. Wenn wir von der EU sprechen, müssen wir von den 27 Mitgliedsstaaten sprechen. Wie soll gegen tatenlose Mitgliedsstaaten vorgegangen werden, wenn es keine einheitliche Regel gibt, wo die Supranationalität greift und die EU die Politik bestimmt? Eben gar nicht. Denn Asylpolitik ist Sache der Mitgliedstaaten. So würde man im Föderalismus argumentieren mit: „Das ist Ländersache und nicht die des Bundes.“ Solange das Dublin-System nicht reformiert wird, wird die gemeinsame europäische Asylpolitik scheitern und das immer wieder. Das Dublin-System blockiert die gemeinsame Europäische Asylpolitik (GEAS).

Fortuna soll es richten

Die ohnehin in Kritik geratene Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) hat wegen ihrer aggressiven Vorgehensweise ihrem Namen mal wieder alle Ehre gemacht. Erneut wurden Menschen in Booten illegal zurück in Richtung der Türkei getrieben. Frontex-Mitarbeiter und sogar Beamte schauten tatenlos dabei zu, wie Menschen mitten im Mittelmeer ihrem eigenen Schicksal überlassen werden5https://www.tagesschau.de/investigativ/report-mainz/frontex-pushbacks-101.html. Ironischerweise weist Fabrice Leggeri, Frontex-Chef, jegliche Kritik zurück und sieht keinerlei Fehlverhalten seiner Behörde6https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-02/frontex-push-backs-eu-asylpolitik-grenzschutz-mittelmeer-fluechtlinge?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F. Denn sie seien verpflichtet, die Grund- und Menschenrechte zu achten. Als Argument nennt er die EU-Verordnung zur Überwachung der Seeaußengrenzen durch Frontex-Einsätze. Diese besagt, dass bei Verdacht des Menschenhandels Griechenland die Boote anweisen kann, ihren Kurs zu ändern7https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-02/frontex-push-backs-eu-asylpolitik-grenzschutz-mittelmeer-fluechtlinge?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F. Folglich können Griechenland und alle EU-Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen entscheiden, wer ankommen darf und wer nicht. Das widerspricht eindeutig dem Recht auf Asyl, was im Genfer Abkommen geregelt ist. Ein Mensch, der den Schutz in seinem Heimatland nicht wahrnehmen kann und sich aus diesem Grund auf die Flucht begibt, da er in sein Heimatland nicht zurückkehren kann, ist ein geflüchteter Mensch8https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2017/03/Genfer_Fluechtlingskonvention_und_New_Yorker_Protokoll.pdf Artikel 1, A. 2.

Die Genfer Flüchtlingskonvention legt den Schutz der geflüchteten Menschen genau fest. „Asyl wird Menschen gewährt, die vor Verfolgung oder ernster Gefahr fliehen. Asyl ist ein Grundrecht, dessen Gewährung eine völkerrechtliche Verpflichtung gemäß der Genfer Flüchtlings-konvention aus dem Jahr 1951 darstellt.“9https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/files/e-library/docs/ceas-fact-sheets/ceas_factsheet_de.pdf Zudem sind in den Rechtsvorschriften der EU-Kommission sowohl die Asylverfahrensrichtlinie als auch die Aufnahmebedingungen sichergestellt, die unmittelbar humane materielle Aufnahmebedingungen für Asylsuchende gewährleisten. Außerdem sind die Grundrechte der geflüchteten Menschen zu gewährleisten10https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/files/e-library/docs/ceas-fact-sheets/ceas_factsheet_de.pdf. Politisch Verfolgte genießen einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf Asyl (Art. 16 a GG)11https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_16a.html.

Jeder Mensch, der vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden aus seinem Herkunftsland flieht, hat das Recht, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Asyl ist ein Grundrecht, das auch im deutschen Grundgesetz geregelt und zudem eine internationale Verpflichtung der Vertragsparteien des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 195112https://www.europarl.europa.eu/about-parliament/de/democracy-and-human-rights/fundamental-rights-in-the-eu/guaranteeing-the-right-to-asylum ist.

Sieht man sich die überfüllten Lager an, die Videos von „Push-Backs“ der mit Frauen und Kindern besetzten Booten auf dem Mittelmeer von Seiten der Frontex, stellt man sich zurecht die Frage, ob die EU überhaupt noch als Werteunion angesehen werden kann. Bei diesen Push-Backs werden Boote von Frontex-Schiffen blockiert, die Menschen nicht gerettet und die Frontex-Beamten fahren an diesen Booten mit hoher Geschwindigkeit vorbei. Dadurch entstehen Wellen, die dafür sorgen, dass die Boote zurückgetrieben werden, und zwar in die Türkei. Zudem ist auf Videos zu sehen, „[…] wie die griechische Küstenwache das Schlauchboot später weiter in Richtung Türkei zurückschiebt“13https://www.tagesschau.de/investigativ/report-mainz/frontex-pushbacks-101.html.

Einige Flüchtlinge sprechen bereits davon, dass die EU sie gekidnappt und illegal in die Türkei entführt habe14https://www.zeit.de/politik/2021-02/frontex-eu-grenzschutzagentur-kontrolle-menschenechte-ruestungsindustrie. Wäre es an der Zeit, eine weitere unabhängige Behörde oder Agentur zu gründen, die genau diese Frontex-Beamten kontrolliert? Fortuna entscheidet darüber, was mit den Menschen auf dem Meer passiert, ob sie ertrinken oder doch überleben. Sie sind dem Schicksal selbst überlassen. Die Flüchtlings- und Asylpolitik läuft Mutter EU langsam aus dem Ruder. Welch eine Ironie „der Fortuna“ dieser Satz doch verdeutlicht. Statt um Glück und Zuversicht, wie der Name es propagiert, wird hier Russian Roulette gespielt.

Kolonialismus, Xenophobie, Flucht

Dabei darf die Geschichte Europas nicht in Vergessenheit geraten. Die Geschichte, die zum großen Teil heute dafür sorgt, dass weltweit Menschen auf der Flucht sind. Es ist die koloniale Herrschaft europäischer Großmächte. Die daraus entstandene „Xenophobie“, die „Scheu vor dem Fremden“, so erklärt es Wolfgang Reinhard in seinem Werk „Die Unterwerfung der Welt“, sorgt bis heute dafür, dass man sich von anderen Menschen distanziert, die dann automatisch abgewertet werden. Während der Kolonialzeit reagierten Europäer*innen auf neue Volksgruppen und Kulturen mit einem gesteigerten Ethnozentrismus, der von Rassismus geprägt war. Bereits zu jener Zeit wurden die „Anderen“ vom Westen als zurückgebliebene unterentwickelte Menschen angesehen und im „Zeichen des Rassismus als hoffnungslos minderwertige Untermenschen […]“ verstanden. Die Besiedelung der Erde erwies sich durch den Menschen selbst und damit in diesem Rahmen die von der europäischen Expansion in Gang gesetzte Interaktion der Kulturen als erbrachtes Leitmotiv einer neuen Weltgeschichte des letzten halben oder ganzen Jahrhunderts. Viele Impulse gingen von Europa aus und diese Erkenntnis nennt Reinhard „eurozentristisch“15vgl. Reinhard 2016: 1309 (Die Unterwerfung der Welt: Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415-2015). Auch heute ist Europa bzw. viele Staaten vom eurozentristischen Denken geprägt. Man verschließt lieber die Augen vor dem „Fremden“, wie es Reinhard nennt, als die Probleme gemeinsam richtig anzugehen und Menschen außerhalb von Europa aufzunehmen und sie auch als Menschen zu respektieren.

„Erst sind die Europäer ausgeschwärmt und haben die Welt unterworfen und jetzt kriegen sie die Quittung, denn jetzt kommt die Welt zurück nach Europa“. Da ist einiges dran, aber eigentlich ist das schon vorbei. Inzwischen ist die Situation etwas anders, und man könnte sagen: Die Europäer haben die koloniale Welt unterentwickelt hinterlassen, dadurch entsteht eine Notlage, ein wirtschaftlicher Engpass, der dann die Menschen dazu drängt, ihr Land zu verlassen und sich nach Europa zu flüchten.“ Der andere Punkt ist, dass Europa, zum Teil unbeabsichtigt, der Welt seine Kultur aufgedrückt hat. Reinhard unterstreicht, dass Menschen nach Europa vor Krieg und Terror, vor Armut und dem Klimawandel fliehen. Aber sie suchen eben auch die europäische Kultur, die europäische Lebensform, die mit der „Unterwerfung der Welt“ exportiert worden ist16https://www.deutschlandfunk.de/migration-und-kolonialismus-jetzt-kommt-die-welt-zurueck.1773.de.html?dram:article_id=375470.

Nur Weitsicht hilft weiter

Eine geregelte humanitäre Organisation, menschenwürdige Unterkünfte und Zugang zu Hygiene für eine kleine Anzahl von Familien sind dringend notwendig. Zudem darf die Bildung für Kinder nicht unterschätzt werden. Asylprozessbeschleunigung und das Dublin-III-System müssen komplett reformiert werden, damit die Menschen dort Asyl stellen können, wo sie wollen. Krieg, Armut und Ungleichheiten werden immer stärker vorhanden sein, sofern wir als Europäische Union nicht gemeinsam handeln werden. Wir müssen als Menschen für Menschen arbeiten. Auch andere Kontinente sind es den vor Flucht und Terror fliehenden Menschen schuldig. Bleiben wir untätig, wird eine viel größere Ungleichheit auf uns zukommen. Immer mehr Menschen werden nach Europa flüchten und Gewalt wird dieses Problem nicht lösen. In den Kriegs- und Krisenländern zu helfen ist richtig. Dabei darf aber diplomatische und transnationale Zusammenarbeit nicht zu kurz kommen. Wir können und müssen hier vor unserer eigenen Tür kehren und den Menschen das neue „Zuhause“ wenigstens temporär erleichtern. Denn viele von ihnen, und das kann ich erfahrungsgemäß durch meine jahrelange Arbeit mit geflüchteten Menschen sagen, möchten eines Tages „zurück“ in ihr Heimatland und selbst anpacken. Aber bis dahin ist noch lange Zeit. Zeit, die wir nutzen müssen, da wir es den Menschen schuldig sind.

Von Albana

Albana ist 26 Jahre jung und hat Politikwissenschaften und Deutsch als Fremdsprache an der Universität in Trier studiert. Zurzeit studiert sie "European and International Law" am Europa-Institut der Universität des Saarlandes. Sie ist seit 2015 Mitglied bei der SPD im Saarland. Seit vielen Jahren engagiert sie sich für Europa bei den Jungen Europäischen Föderalisten, zudem sind ihr die Themen Migration, Integration und Gleichberechtigung eine Herzensangelegenheit. Seit Oktober 2020 ist sie die verantwortliche Ansprechpartnerin für das Regionalbüro Saarland der Europa SPD.

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