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Außen & Europa

Wider die Europaskepsis: Für eine mutige sozialdemokratische Europapolitik

Der diesjährige Europatag findet in politisch turbulenten Zeiten statt. Die Europäische Union hat aktuell nämlich keinen guten Stand: Inhumane Politik an den Außengrenzen, politische Tumulte im Inneren und ein bestenfalls schleppender Impfstart. Nationalistische Euroskepsis ist als Reaktion darauf nichts Neues. Wohl aber die immer polemischer und undifferenzierter werdende Tonalität von links. Die Sozialdemokratie täte ihrerseits gut daran, beidem eine dezidierte Absage zu erteilen und bei der anstehenden Bundestagswahl eine innovative und mutige pro-europäische Agenda zu verfolgen. Denn nur so können die sozialdemokratischen Kernversprechen auch in der zunehmend globalisierten Welt des 21. Jahrhundert wirksam eingelöst werden.

Es waren kühne Töne, die Ursula von der Leyen im zurückliegenden Sommer bei der Ankündigung der in Aussicht stehenden europäischen Impfkampagne angeschlagen hatte. Sobald aussichtsreiche Impfstoffe zur Verfügung stünden, so Von der Leyen, werde „die Europäische Union […] alles in ihrer Macht stehende tun, damit alle Menschen Zugang zu einem Impfstoff haben, egal, wo auf der Welt sie leben.“1https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_20_1103 Gerecht geworden ist die Europäische Union ihren Ansprüchen seither nicht. Im Gegenteil: Die EU steht vor einem impfpolitischen Scherbenhaufen – einem Scherbenhaufen, den sie lange Zeit lieber unter den Tisch zu kehren und schönzureden, als ernsthaft zu adressieren versucht hat. Bedauerlicherweise aber reiht sich das europäische Impfchaos damit nur in eine Reihe von Misserfolgen und Skandalen ein, durch die die EU in den letzten Jahren negativ von sich reden gemacht hat. Seien es die allzu zaghaften Reaktionen auf den wachsenden Autoritarismus in Ungarn und Polen oder die weiter anhaltende inhumane Flüchtlingspolitik an den europäischen Außengrenzen: Die Europäische Union scheint nicht nur ein zahnloser Tiger zu sein, sondern ein unsolidarischer und wertfreier gleich dazu. Grund genug, die EU einer Fundamentalkritik zu unterziehen und in plumpen Euroskeptizismus zu flüchten? Mitnichten.

Denn so sehr die EU auf politischem und moralischem Terrain versagt – es wäre falsch, das gegenwärtige Versagen der EU als Versagen des europäischen Projekts als solches zu deklarieren.

Es ist nicht Europa oder die EU per se, es sind die europäischen Staats- und Regierungschefs, die Kommissarinnen und Kommissare und die Strukturen der Europäischen Union – kurz: die momentanen politischen und institutionellen Arrangements – die aktuell scheitern. Die jedoch lassen sich verändern, sich demokratisch reformieren. Was es dazu sicher nicht braucht, sind die Einlassungen notorisch einfältiger Europafeinde von rechts. Genauso wenig aber braucht es die aktuell immer lauter werdenden Tiraden denkfauler Europa-Skeptiker von links, denen im Licht drängender Probleme nichts Besseres einfällt, als die EU als neoliberales Konstrukt zu verschreien, deren Symbole als „Frontex-Lappen“ zu verunglimpfen – und damit konstruktive Reformvorschläge polemischer Häme hintanzustellen. Was es stattdessen braucht, sind Einfallsreichtum, Gestaltungsmut und politischer Wille.

Die Sozialdemokratie – eine gesamteuropäische Bewegung

Einfallsreichtum, Gestaltungsmut und politischer Wille: Das ist nicht nur, was es zu grundlegenden Reformen der ebenso imperfekten wie unerlässlichen Organisation EU braucht – es sind auch die politischen Kardinaltugenden einer modernen, fortschrittsorientierten Volkspartei. Höchste Zeit für die SPD, sich dessen vollumfänglich bewusst zu werden, zur europäischen Reformkraft zu avancieren und sich als gesamteuropäische Bewegung zu begreifen. Denn klar muss sein: Die politischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind auf nationalstaatlicher Ebene einfach nicht mehr zu meistern. Das ist nicht nur bei den Themen Klimawandel und Terrorbekämpfung der Fall, sondern zeigt sich gerade im Bereich Sozialpolitik. Wo eine globalisierte Wirtschaft auf nationale Sozialsysteme trifft, haben letztere nämlich viel zu oft das Nachsehen. Erfreulich ist, dass sich die SPD bereits heute für ein europäisches Sozialsystem (etwa in Form einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung), für einen europäischen Mindestlohn, eine gesamteuropäische Mindestbesteuerung, die Einführung des Mehrheitsprinzips im Rat und zuletzt sogar für stärkere sicherheitspolitische Autonomie einsetzt. Erfreulich ist ebenfalls, dass die SPD und ihr Spitzenkandidat Olaf Scholz auch mit ihrem heute beschlossenen Wahlprogramm klare europapolitische Akzente gesetzt hat, etwa ein Initiativrecht für das europäische Parlament sowie eine Weiterentwicklung des europäischen Asylsystems fordert und Europa sogar in den Titel ihres Programms aufgenommen hat. Die SPD ist damit schon heute die pro-europäische Kraft in Deutschland und hat erkannt, dass die politischen Fragen der Gegenwart europäische Antworten erfordern. Und doch: In vielen Punkten bleibt sie noch immer zu vage; grundlegende Systemänderungen oder eine große europapolitische Erzählung schweben ihr in vielen Punkten nicht vor.

Mutige Visionen statt politischer Reformkosmetik

Dabei wäre gerade das aktuell nötig. Hinter den aktuellen Problemen – der coronabedingten Gesundheitskrise, dem humanitären Versagen an den Außengrenzen und dem grassierenden Autoritarismus, um nur einige zu nennen – stecken nicht nur punktuelle politische Fehler, sondern ein Versagen des Systems als solchem. Im Falle der Flüchtlingspolitik ist dieses System Dublin II sowie die intransparente und in vielerlei Hinsicht marode Grenzagentur Frontex. Im Falle der Pandemiebewältigung ist es die noch immer viel zu nationalstaatszentrierte Kompetenzverteilung in der Gesundheitspolitik. Und im Falle des Autoritarismus sind es die auch nach dem Beschluss der Rechtstaatsklausel im EU-Haushalt fehlenden Mechanismen, um Autokraten á la Orban im Zaum zu halten und demokratisch-rechtsstaatliche Werte zu verteidigen. Vor diesem Hintergrund braucht es nicht nur politische Reformkosmetik, sondern mutige Visionen. Dazu gehört eine substanzielle Reform des europäischen Asylsystems – weg von Dublin-Regeln hin zu solidarischen Mechanismen, die einen humanitären Umgang mit Geflüchteten und eine solidarische Lastenverteilung unter den Mitgliedstaaten gewährleisten; dazu gehört eine Supranationalisierung des Gesundheitssektors in Form gemeinsamer Pandemieprotokolle, grenzübergreifender Pandemie-Koordination und europäisch organisierter Bereitstellung medizinischer Hilfsgüter; dazu gehört ein genuiner europäischer Sozialstaat mit einem effektiven Instrumentarium zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit und einer gesamteuropäischen Besteuerung und ja, dazu gehören auf lange Sicht die Vereinigten Staaten von Europa, ergo ein europäischer Verfassungsstaat.

Wir brauchen mehr als kosmopolitische Träumerei

Wichtiger noch als diese zugegebenermaßen abstrakten Visionen ist allerdings eine konkrete Umsetzung selbiger und ein Aufzeigen dessen, was diese Ziele konkret mit der Lebensrealität der Unionsbürger*innen zu tun haben. Bleibt man im Wolkenkuckucksheim europapolitischer Utopien, bleibt man bei einer rein theoretischen Debatte über die Zukunft des Kontinents und wiegt man sich allein in seinen kosmopolitischen Träumen, dann befördert man nämlich ganz automatisch Skepsis und Unmut. Zeigt man hingegen, wie ein europäisches Gesundheitssystem das Leben von einem selbst und seiner Nächsten konkret verbessern kann, wie durch ein Sozialsystem transnationale Einkommensklüfte verringert, beispielsweise osteuropäische Arbeiter*innen und andere „Globalisierungsverlierer*innen“ bessergestellt und somit der Hauptgrund für den erstarkenden Populismus bekämpft würde und wie all dies im Rahmen eines föderalen Bundesstaates Europa und einlösbarer sozialer Rechte passieren könnte, dann kommen wir unserem Ziel wirklich näher. Europapolitische Debatten und Visionen eines europäischen Bundesstaates dürfen daher nicht zur Beschäftigungstherapie gelangweilter Hobby-Politikwissenschaftler*innen mutieren, sondern müssen zielgerichtet zu mehr sozialer Gerechtigkeit und einer Besserstellung aller – gerade der wirtschaftlich-sozial Abgehängten – führen. Andernfalls sind sie nutzlos.

Bei allem berechtigten und notwendigen Enthusiasmus gegenüber dem europäischen Projekt ist es gleichzeitig jedoch wichtig, eine Europäisierung nicht als politisches Allheilmittel zu verstehen. In vielen Bereichen ist und bleibt der Nationalstaat auch heute wichtiger Referenzpunkt. Peter Brandt, Vorstandsmitglied der Friedrich-Ebert-Stiftung, hat Recht, wenn er sagt, dass die Nation „für die Mehrheit der Menschen überall auf der Welt weiterhin die primäre Bewusstseins-, Gefühls- und Kommunikationsgemeinschaft“ 2https://www.ipg-journal.de/rubriken/zukunft-der-sozialdemokratie/artikel/wir-brauchen-eine-linke-oekumene-2910/ ist. Gerade beim Thema kulturelle Identität heißt es also, die Finger zu lassen von dem Versuch, Menschen eine kosmopolitische Einheitskultur überzustülpen. Die Existenz unterschiedlicher Nationen, kultureller Unterschiede und verschiedener Sprachen ist eine Stärke der Europäischen Union, die es auch in Zukunft zu verteidigen gilt. Dass sich der Nationalstaat in vielen Politikbereichen als impotent erwiesen hat, bleibt davon unberührt und ist natürlich richtig. Dies zum Anlass zu nehmen, von der kompletten Überfälligkeit des Nationalstaats und dessen grundsätzlich destruktiven Charakter zu schwadronieren aber ist es nicht. Nationalstaaten und eine stärkere europäische Integration hin zu einer europäischen Föderation schließen einander nämlich nicht aus, sondern müssen zusammengedacht werden.

Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – europaweit

Die Sozialdemokratie sollte sich also klar zum europäischen Projekt bekennen, mutige Visionen formulieren und diese in eine glaubwürdige, überzeugende und mobilisierende Erzählung einbetten.

Die aktuellen Tendenzen, nicht nur in der politischen Rechten, sondern zunehmend auch in der Linken, das Europäische Projekt zu verunglimpfen, es gar als gescheitert zu erklären, stehen im krassen Kontrast dazu und sind besorgniserregend; gleichzeitig aber sind sie Ausdruck einer allgemeinen politischen Ideen-, Einfalls- und Visionslosigkeit. Aufgabe der SPD ist es, dieser euroskeptischen Einfallslosigkeit pro-europäische Systementwürfe entgegenzusetzen. Nein, solche Systementwürfe sind keine postnationalen Träume realitätsabgesonderter Bildungseliten, nein, eine Umsetzung solcher Entwürfe würde nicht noch mehr Orientierungslosigkeit bedeuten. Im Gegenteil: Sie wären schlicht eine Einlösung der sozialdemokratischen Kernversprechen von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität auf europäischer Ebene.  Die ist angesichts sich vertiefender sozialer Spaltungen auf dem Kontinent dringend nötig. Lasst uns das Zepter also nicht den Europagegner*innen überlassen und selbst anpacken – für ein in Zukunft soziales und solidarisches Europa.

Von Felix

Felix ist 19 Jahre alt, hat nach erfolgreichem Abitur ein FSJ im Schweriner Landtag gemacht und studiert jetzt Philosophy, Politics and Society and der Radboud Universität in Nijmegen. Sein besonderes Interesse gilt internationalen und europapolitischen Themen. In die SPD ist er im Frühjahr 2019 eingetreten.

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