Das Jahr 2020 hat keinen Zweifel daran gelassen: Das Wissen um Hygieneregeln und Gesundheit ist elementar. Der Grundstein hierfür wird schon in der Kindheit gelegt. Während in Kindergärten beim Hände waschen nun Lieder gesungen werden, damit die Kleinen ein Gefühl dafür bekommen, wie lange sie ihre Hände waschen müssen, wurden die älteren Kinder über Hust- und Niesregeln aufgeklärt und lernten anhand von Glitzer oder ähnlichem, wie sich Viren verbreiten. Das alles leisteten Erzieher*innen und Lehrkräfte zusätzlich zu ihrer eigentlichen Arbeit. Dabei gibt es ein vielversprechendes Konzept, um Kindern Themen wie Gesundheit, Ernährung und Erste Hilfe schon frühzeitig nahezubringen. Im Jahr 2017 nahmen an 20 Schulen in Brandenburg und an 10 Schulen in Hessen die ersten Schulgesundheitsfachkräfte ihren Dienst auf. Ein Jahr vorher begann die Qualifizierung von Gesundheits- und Kinder-/Krankenpflegekräften durch den AWO Bezirksverband Potsdam. Die Idee wurde über fast zehn Jahre entwickelt, ehe sie 2017 in die erste Modelphase ging. Mittlerweile steht das Projekt in mehreren Bundesländern in den Startlöchern. Neben den beiden Vorreitern hat die erste Modellphase in Schleswig-Holstein, Bremen, Hamburg und Rheinland-Pfalz inzwischen begonnen, während man sich in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Berlin noch in der Planung befindet. Hessen dagegen hat die Modellphase erfolgreich abgeschlossen und ist mit Januar 2020 in die Regelfinanzierung über das Kultusministerium übergegangen. Doch wie ist es um die Gesundheit unserer Kinder bestellt? Existiert überhaupt Handlungsbedarf?
Der Ist-Stand
Die Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS), die vom Robert Koch-Institut durchgeführt wird, liefert seit ihrer Basiserhebung zwischen 2003 und 2006 regelmäßige Informationen über den Gesundheitszustand der Kinder zwischen 0 und 17 Jahren. Das Besondere an der KiGGS-Studie ist, dass sie die befragten Kinder nicht nur nach Altersgruppen aufgeschlüsselt hat, sondern auch nach ihrem sozioökonomischen Status. Dadurch ist beispielsweise in der 2. Welle der Befragungen zwischen 2014 und 2017 deutlich geworden, dass 27% der Mädchen und 24,2% der Jungen mit niedrigem sozioökonomischem Status übergewichtig sind, während gleiches auf 6,5% der Mädchen bzw. 8,9% der Jungen mit höherem soziökonomischem Status zutrifft. Noch deutlicher wird das Gefälle bei Adipositas, also Fettleibigkeit: Sowohl Mädchen wie auch Jungen aus sozioökonomisch schwächeren Familien sind viermal so häufig adipös, wie ihre Altersgenoss*innen aus bessergestellten Familien. Nun könnte man davon ausgehen, dass sich dieses Übergewicht im Laufe der körperlichen Entwicklung verwächst, doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Allein in Sachsen-Anhalt sind laut statistischem Landesamt zwei Drittel der Männer und über die Hälfte der Frauen übergewichtig oder gar fettleibig. Gleichzeitig sterben in Sachsen-Anhalt im bundesdeutschen Vergleich die meisten Menschen an Krebs (hauptsächlich Krebserkrankungen der Verdauungsorgane), es leiden eineinhalbmal so viele Menschen an Diabetes Typ ll, womit auch die Zahl der Todesfälle durch Diabetes entsprechend hoch ausfällt, und Sachsen-Anhalt hat deutschlandweit die meisten Toten durch Herzinfarkte. All diese Krankheiten werden zum Teil durch unausgewogene Ernährung verursacht, zumindest jedoch begünstigt. Abzusehen ist mindestens eine Verstetigung der Entwicklung, denn jedes vierte Kind der 6. Klasse leidet in Sachsen-Anhalt schon an zu hohem Blutdruck. Damit ist das Land in Mitteldeutschland trauriger Spitzenreiter einer unrühmlichen Entwicklung. Bereits vor gut zwei Jahrzehnten sprach die WHO von einer Epidemie, die Entwicklung des Übergewichts in Europa betreffend. Aber was sollen Schulgesundheitsfachkräfte hierbei bewirken? Welchen Nutzen hätten sie für den Alltag an den Schulen?
Das Projekt
In den meisten europäischen Ländern gibt es sie bereits, die Schulgesundheitsfachkraft. Deutschland war hier bis vor wenigen Jahren eine Ausnahme. Doch bei der AWO Potsdam sah man Handlungsbedarf. In fast einem Jahrzehnt und unzähligen Stunden wurde ein detaillierter Plan erstellt, wie das Projekt der Schulgesundheitsfachkraft auch in Deutschland funktionieren kann. Da wurde auch mal liebevoll von „Medizinischer Versorgung wie in Hogwarts“ gesprochen.
Begonnen hat alles 2007 mit dem Verteilen von kostenlosem Frühstück an brandenburgischen Schulen. Anlass war damals das Thema Kinderarmut, doch Angela Schweers, Vorstandsvorsitzende des AWO Bezirksverbands Potsdam, stellte schnell fest, „dass [arme Kinder] eigentlich noch viel mehr brauchen, um wirklich gesund durch den Schulalltag zu kommen“. Nach vielen Kämpfen und einer steigenden Zahl an Verbündeten traten dann 2017 die ersten Schulgesundheitsfachkräfte in den ersten zwei deutschen Bundesländern ihren Dienst an. Doch der Alltag an Schulen beinhaltet für sie weit mehr als Pflaster kleben und impfen. So berichtet eine Schulgesundheitsfachkraft von einer Cottbuser Grundschule, dass sie schon stark übergewichtigen Drittklässler*innen beim Abnehmen unterstützt, die Grundschüler*innen über die gesundheitlichen Folgen von Rauchen und Drogenkonsum aufklärt, da an ihrer Schule selbst die unter Zehnjährigen immer wieder beim Rauchen erwischt werden. Aber es gibt auch schon schwere Fälle von Kindern, die ihren seelischen Qualen durch autoaggressives Verhalten wie dem „Ritzen“ Ausdruck verleihen, weil sie zu Hause mit Alkohol- oder Drogensucht und oft mit Gewalt konfrontiert werden. In solch schweren Fällen bietet die Schulgesundheitsfachkraft die Schnittstelle zu Schulsozialarbeiter*innen oder Kinderpsycholog*innen. Außerdem zählt die Betreuung von Kindern mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen, wie beispielsweise Diabetes, zu dem normalen Aufgabenbereich. Dadurch wird die gelebte Inklusion für alle Beteiligten erleichtert und im Notfall ist eine medizinisch ausgebildete Person vor Ort, um schnell zu helfen. Ein weiterer wichtiger Teil der Tätigkeit ist die Früherkennung und Hilfestellung bei gesundheitlichen Problemen der Schüler*innen und eine Beratung der Familien. Einen großen Bereich der Arbeit der Schulgesundheitsfachkräfte macht die Gesundheitsförderung, Prävention und Netzwerkarbeit aus. Sie organisieren Veranstaltungen und Projekte wie zum Beispiel „aktive Pause“, „Schule ohne Stress“ oder „GemüseAckerdemie“. Dadurch wird gesundheitliche Aufklärung zu einem festen Bestandteil des Schulalltages und die Lehrkräfte werden nicht nur von diesen bisherigen Aufgaben entlastet, sondern ebenfalls in eigenen Veranstaltungen fortgebildet und sensibilisiert. Das gibt den Lehrer*innen die Möglichkeit, sich wieder stärker auf ihre eigentlichen Aufgaben zu konzentrieren und schafft gleichzeitig neue Freiräume für die Mammutaufgabe der Digitalisierung der Bildung. Des Weiteren steht die Sinnhaftigkeit von Erste-Hilfe-Kursen für Schüler*innen außer Frage. Schätzungen zu folge könnten durch regelmäßige, flächendeckende Erste-Hilfe-Kurse mehrere tausend Leben im Jahr gerettet werden. Ziel ist es, dass Kinder und Jugendliche in Notsituationen nicht in Panik verfallen und im Idealfall sogar selbst als Helfende agieren können. Auch Lehrkräfte werden so im Ernstfall entlastet, da sie eine ausgebildete Fachkraft im Haus haben, welche die Erstversorgung bei Verletzungen übernehmen kann, während die Lehrkräfte ihrer pädagogischen Verantwortung den anderen Schüler*innen gegenüber weiter nachkommen können. Nur welchen gesamtgesellschaftlichen Mehrwert bieten solche Projekte? Können sie mehr als nur Leuchttürme sein?
Der Langzeiteffekt
Es ist mittlerweile allgemeinhin bekannt, dass starkes Übergewicht und Fettleibigkeit eine große Zahl an Folgeerkrankungen bedingen. Diese wiederum stellen oft eine enorme Härte für die Betroffenen dar. Neben einer potentiellen Arbeitsunfähigkeit stehen auch immer die gesellschaftliche Stigmatisierung und leider auch oft eine gewisse soziale Isolation im Raum. Diese haben ihrerseits nicht selten psychische Erkrankungen zur Folge und die Scham, sich Hilfe zu holen. So ist auffällig, dass gerade Sachsen-Anhalt auch die Statistik der Suizide anführt.
Ein gesünderes Leben und schon frühe Sensibilisierung für Achtsamkeit und Stressbewältigung können hier einen enormen Beitrag leisten. Die Schule ist hier ein wichtiger Ansatzpunkt, da sie Kinder aller sozialen Schichten gleichermaßen erreicht. Denn es ist unstrittig, dass Kinder übergewichtiger Eltern selbst häufiger unter Übergewicht leiden. Nun könnte man mit erblicher Veranlagung argumentieren, jedoch erklärt das nicht, warum Kinder, deren nicht leibliche Eltern übergewichtig sind, ebenfalls betroffen sind. Genauso wenig kann dies die massive Häufung in niedrigen sozioökonomischen Schichten begründen. Auch häufiger betroffen sind Kinder mit Migrationshintergrund. All dies legt den Schluss nahe, dass familiäre Lebensbedingungen und Verhaltensweisen einen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder haben. So ist auch die Rolle der finanziellen Mittel nicht zu unterschätzen. Während in der Coronapandemie gerade frische Lebensmittel immer teurer wurden, stieg beispielsweise der Hartz lV Satz nur unwesentlich.
Untermauert wird dies durch eine Aufsplittung der Untersuchungsergebnisse von sachsen-anhaltinischen Schüler*innen nach öffentlichen und freien Schulträgern. Hier schnitten Kinder, die öffentliche Schulen besuchen, in 11 von 13 zu Grunde gelegten Gesundheitsparametern schlechter ab als Gleichaltrige, deren Eltern ihnen den Besuch einer Schule in freier Trägerschaft ermöglichen können. Natürlich muss über den reinen Bildungsaspekt hinausgegangen werden, denn neben dem Wissen um Bereiche wie gesunde Ernährung brauchen die Kinder auch die Möglichkeit, das Erlernte in die Tat umzusetzen. Eine gute Möglichkeit hierfür kann das Schulessen bieten. Nach den Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung sollen die Speisen möglichst abwechslungsreich gestaltet sein, Obst und Gemüse als Rohkost oder Salat beinhalten und den Kindern sollte immer kostenlos Trinkwasser zur Verfügung stehen. Es wäre relativ leicht, Caterer gesetzlich dazu zu verpflichten, sich an diese Standards zu halten. Denn oft stellt das Essen in diesen Einrichtungen für Kinder den einzigen Zugang zu einer warmen Mahlzeit dar. Wenn es gelingt, durch dieses Zusammenwirken von Bildung und Gesundheit, von Theorie und Praxis, die Zahlen der Betroffenen von vermeidbaren, oft chronischen Erkrankungen zu reduzieren, dann wird nicht nur etlichen Menschen der Weg in Leben mit besseren Teilhabechancen geebnet, sondern, und das gehört zu Wahrheit mit dazu, dem ganzen Gesundheits- und Sozialsystem wird viel Geld gespart, welches sonst in die Behandlung eben jener Erkrankungen und oft damit bedingte Arbeitsausfälle geflossen wäre. Dieses Geld steht im Umkehrschluss für weitere Investitionen in gesunde Bildung von Kindesbeinen an zur Verfügung. Denn Gesundheit und Ernährung müssen endlich als soziale Frage erkannt und auch so behandelt werden. Es ist nicht länger hinzunehmen, dass Menschen mit niedrigem Einkommen und geringer Bildung deutlich kränker sind und früher versterben. Das ist ein Zustand, mit dem wir uns niemals zufriedengeben dürfen.