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Wirtschaft & Arbeit

Warum die Sonntagsruhe heilig ist

Immer wieder kommt aus der wirtschaftsliberalen Ecke die Forderung, die Sonntagsruhe, insbesondere für den Einzelhandel, zu kippen. Begründet wird das wahlweise mit „die in der Pflege/Gastronomie müssen ja auch arbeiten“ oder „damit retten wir den Einzelhandel vor dem Online-Handel“. Auf den ersten Blick sicherlich schlüssige Argumente, doch wie haltbar sind sie in der Realität? Ein argumentativer, aber teils auch sehr persönlicher Beitrag.

Sonntags sind die Läden zu – das war schon immer so, zumindest für alle, die in Deutschland oder Österreich groß geworden sind. Begründet wird das immer unterschiedlich: die Kirche und christlich-konservative Parteien argumentieren oft mit dem Passus im Alten Testament, der den siebten Tag zum Ruhetag erklärt. Zugegeben: Als Sozialdemokrat und Gewerkschaftsmitglied habe ich für solche Argumentationen eher wenig übrig und sehe „kirchliche Traditionen“ im Arbeitsrecht erstmal per se kritisch. Es gibt aber auch jenseits dieser konservativen Argumentation gute Gründe für eine einen festgelegten Ruhetag, auf die ich im Folgenden etwas näher eingehen werde.

Die Grundlage und aktuelle Situation

Grundlage für die grundsätzliche Sonntagsruhe ist der Art. 139 der Weimarer Reichsverfassung, der in das Grundgesetz übernommen worden ist. Er lautet wörtlich: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“ Gut, über seelische Erhebung lässt sich sicherlich streiten, aber es bleibt festzuhalten, dass der Ladenschluss am Sonntag Verfassungsrang hat. Die Kompetenz, diese grundsätzliche Ruhe auszugestalten, haben die Länder. Sie erlauben in den meisten Fällen vier, in Einzelfällen aber auch sechs und zehn verkaufsoffene Sonntage, eine grundsätzliche Öffnung ist aber nicht möglich. So ist das Land Berlin vom Bundesverfassungsgericht zurückgepfiffen worden, als es allen Läden voraussetzungslose Öffnung an allen Adventssonntagen ermöglichte. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Jahr 2017 nochmal präzisiert, dass Umsatzinteresse und Shoppinglaune allein keine Gründe für eine Sonntagsöffnung darstellen. Soweit zu den aktuellen Regeln, doch warum setzen sich Arbeitnehmer*innenparteien und Gewerkschaften so sehr dafür ein, sie zu erhalten?

Ankerpunkt Sonntag – warum der Ladenschluss so wichtig ist

Die Arbeitszeitbandbreite im Handel wurde in den vergangenen Jahren immer weiter ausgeweitet, oft zu Lasten der Beschäftigen. So musste die gleiche Anzahl an Beschäftigen immer mehr Öffnungsstunden abdecken, was die Belastung für die Stammbelegschaft immer weiter steigen ließ. Denn in den meisten Fällen lohnten sich ausgeweitete Öffnungszeiten nur dann, wenn kein zusätzliches Personal eingestellt wurde. Es ist also wenig wahrscheinlich, dass mit weiteren Öffnungsschritten die oft beschworene massenhafte Schaffung von neuen Jobs einhergehen würde, stattdessen würde einfach die jetzige Belegschaft weiter flexibilisiert, was im Ergebnis zu einer einseitig höheren Belastung führt. Doch nicht nur der Druck im Arbeitsumfeld würde sich einseitig negativ auf Beschäftige auswirken, sondern auch die Auswirkungen im sozialen Umfeld gehören dazu. Hier kann ich aus meinen persönlichen Erfahrungen berichten. Ich selbst habe (meine Ausbildung miteingeschlossen) 7 Jahre im Einzelhandel gearbeitet. Der Sonntag war als freier Tag mein Fixpunkt und besonders wichtig für mein Sozialleben. Freunde in großer Runde treffen, ging nur am Samstagabend. Regelmäßige Termine? Nur am Sonntag, weil ich diesen Tag garantiert frei hatte – und die meisten anderen in meinem sozialen Umfeld eben auch. Wäre dieser Tag ebenso „flexibel frei“ gewesen, hätte ich meine Freunde weniger gesehen und feste Termine wären nur sehr schwerlich möglich gewesen. Das ist kein Einzelschicksal, für einige meiner Kolleg*innen war es das gemeinsame Familienessen oder der sonntägliche Kaffee im Altersheim mit der demenzkranken Mutter. All das zeigt, wie wichtig es für Menschen ist, auch bei ihren Sozialkontakten über ein gewisses Maß an Planungssicherheit zu verfügen. Dies sollte zum Wohl der Arbeitnehmer*innen unbedingt geschützt werden und bleiben.

Freiwilligkeit als Lösung?

An diese Punkt kommt häufig der Einwand der „Freiwilligkeit“, auf den ich kurz eingehen möchte. In vielen Unternehmen, so auch bei meiner ehemaligen Arbeitgeberin, basiert die Beteiligung am verkaufsoffenen Sonntag offiziell auf Freiwilligkeit. Diese Freiheit von Zwang besteht allerdings nur auf dem Papier, denn der Laden muss ja öffnen und so ist die interne Ansage „jeder muss an zwei (von vier) Sonntagen arbeiten, tragt euch ein“. Ich halte zwar zwei Sonntage im Jahr weder für unzumutbar noch für eine besondere Belastung, jedoch zeigt sich hier die Methode, die sich in vielen Unternehmen durchsetzen würde. Wenn man sich auf die mögliche gesetzliche Regelung beruft und sich der Sonntagsarbeit verweigert, sind negative Konsequenzen, wie blockierte berufliche Weiterentwicklung oder ein vergiftetes Arbeitsumfeld, sicherlich nicht abwegig. Eine richtige Freiwilligkeit wäre das nicht und eine Möglichkeit, diese sicherzustellen, sehe ich derzeit nicht. Zumal Befürworter*innen von Sonntagsöffnungen sowieso eher allergisch gegen staatliche Eingriffe in Arbeitsbedingungen sind.

„Aber die Pflege“ & „Aber die Gastro“

Warum aber soll man den Handel gegenüber anderen Arbeitsbereichen privilegieren? Die vielen Pflegekräfte müssten ja schließlich auch am Sonntag arbeiten, schlägt es einem da oft entgegen. Das stimmt, aber wenn wir mal ehrlich sind: Es ist halt unabdingbar, dass Menschen auch am Sonntag gepflegt werden. Das geht einfach nicht anders, hingegen ist niemand darauf angewiesen, an einem Sonntag seine Einkäufe zu erledigen und es gibt auch kein Grundrecht darauf, am Sonntag Kallax- und Köttbullaorgien bei IKEA zu feiern. Deutlich konsistenter stellt sich der Vergleich mit der Gastronomie dar, denn auch auf das Wiener Schnitzel oder die Hallumi-Tasche gibt es kein gesetzliches Recht. Was macht also den Unterschied für eine gesetzliche Andersbehandlung? In der Tat wirkt es etwas willkürlich. Für Köch*innen und Servicekräfte ist der siebte Tag der Woche ein ganz normaler Öffnungstag. Stellt sich also die Frage, wo der Unterschied liegen soll. Tatsächlich gibt es kaum einen Grund, der über gewachsene Tradition hinaus geht. Das mag auf den ersten Blick ein eher schwaches Argument sein, doch wenn man genauer hinschaut ist gerade die Gastronomie auf weitgehende Sonntagsschließungen angewiesen. Die Auslastung von Restaurants und Cafés würde wohl massiv darunter leiden, wenn Familien nicht mehr an einem Termin zusammenkommen und Freunde sich nicht mehr an einem fest-freien Tag bzw. den Abenden davor treffen könnten. Oder andersherum: Für die gastronomischen Betriebe würde wohl die Schließung am Sonntag nach Art. 139 WRV eine besondere Härte darstellen – diese Gefahr sehe ich bei Einzelhandelsbetrieben (insbesondere der oben genannten Contra-Argumente) nicht.

Ist die Rettung des Einzelhandels abgesagt?

Wer behauptet, die Probleme des Einzelhandels würden adäquat mit Sonntagsöffnungen behandelt, der irrt. Ein zukunftsfähiger Einzelhandel kann es, auch mit einem grundsätzlich geschlossenen Sonntag, mit der Konkurrenz aus dem Internet aufnehmen. Auch wenn dies Stoff für einen weiteren Artikel ist, möchte ich hierzu einen kurzen Gedanken teilen: Man schlägt seine*n Gegner*in mit dem, was er nicht besser kann. Am Ende des Tages ist es immer noch bequemer, in der Jogginghose vom Sofa aus zu bestellen. Der große Vorteil des stationären Einzelhandels liegt in dem Erlebnis und dem Gefühl, das uns Einkaufen gibt. Das Erlebnis, von der fachkundigen Beratung bis hin zum „Anfassen“-Gefühl. Wenn der Einzelhandel diese Stärken ausspielen würde, kombiniert mit einer kanalübergreifenden, konzertierten Strategie, könnte das sehr viel effektiver sein, als einer Maßnahme nachzujagen, für die es weder eine politische noch eine gesellschaftliche Mehrheit1https://www.rnd.de/politik/verkaufsoffener-sonntag-ein-drittel-der-deutschen-laut-forsa-umfrage-fur-mehr-zusatzliche-offnungstage-MUWDHAXOINABXE5G3FS2W2S2SE.html (selbst im Lichte der Corona-Krise) gibt.

Von Max

Max ist 27 Jahre, arbeitet für eine Bundesbehörde in München und studiert an der FernUni in Hagen nebenbei Politikwissenschaften, Verwaltungswissenschaften und Soziologie. Davor war er hauptberuflich für einen sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten tätig und hatte verschiedene ehrenamtliche Funktionen innerhalb der SPD, in der er seit 2012 Mitglied ist, inne. Seine Themen hier sind Außenpolitik (Schwerpunkt USA & Osteuropa), Arbeits- und Innenpolitik.

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