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Grundsätzliches

Der Sozialliberalismus in der Krise

Unsere politisch-gesellschaftliche Ordnung steckt in der Krise. Die Gesellschaft in der Zange zwischen wachsender sozialer Ungleichheit und materiellen Verwerfungen einerseits und dem unaufhaltbar scheinenden Siegeszug illiberalen Denkens andererseits. Beides – die zunehmende materielle Schieflage und der grassierende Illiberalismus – ist eine Gefahr für unsere freiheitlich-soziale Wertebasis, beides ist ein Grund zur Beunruhigung. Aber beides ist kein Grund zur Resignation. Im Gegenteil: Die Aufgabe einer progressiven und mutigen Sozialdemokratie sollte es sein, diesen Tendenzen entgegenzutreten – mit positiven, sozialliberalen Visionen.

Die aktuelle gesellschaftliche Situation als eine beispielloser Polarisierung und Spaltung zu bezeichnen ist nicht falsch – aber auch nicht ganz richtig. Richtig ist es, weil mit dem Erstarken rechtspopulistischer Kräfte eine nie dagewesene destruktive Kraft unsere politischen Landschaften kontaminiert. Falsch ist es, weil es – in ähnlicher, wiewohl keineswegs vergleichbarer Weise – historische Vorläufer zur aktuellen Situation gibt. Nämlich das Jahr 1969. Damals staute sich ein unüberbrückbarer Konflikt nach dem anderen auf zwischen den beiden Großkoalitionären SPD und CDU, es kam zu einer radikalen Polarisierung zwischen Staat und Gesellschaft. Das Ergebnis: Frust, Protest – und reichlich Reformbedarf. Am 28. September 1969 dann gab es den Paukenschlag: Erstmals in der Geschichte der BRD wurde eine sozialliberale Koalition aus SPD und FDP formiert, wurden die Unionsparteien in die Opposition verbannt – und so der Weg geöffnet für längst überfällige Reformen. In der Folge kam es zu einer zäsur-artigen Expansion des Bildungssystems, zu mehr innerbetrieblichen Mitbestimmungsrechten und einer tiefgreifenden Liberalisierung der Gesellschaft. Der Sozialliberalismus war damit Treiber sozialen Fortschritts und Vorzeigebeispiel gesellschaftlicher Liberalisierungsbestrebungen1https://www.bpb.de/izpb/10109/sozialliberale-koalition-und-innere-reformen.

Seitdem ist freilich viel passiert. Die FDP hat einen neoliberalen Kursschwenk vollzogen und die politischen und gesellschaftlichen Realitäten haben sich gewandelt. Zwar gab es Anfang der 2000er mit der reformorientierten Politik Gerhard Schröders den Versuch, den sozialliberalen Gedanken zu reaktivieren und mit neuem Leben zu füllen. So recht geklappt aber hat das nicht. Die einseitige Betonung wirtschaftlichen Reformbedarfs, die Deregulierung und Prekarisierung der Arbeitswelt und die als alternativlos ausgerufene Mitte-Politik haben den von vielen ersehnten “Dritten Weg” zwischen klassischer Sozialdemokratie und Liberalismus als Sackgasse erscheinen lassen und den Weg zu wichtigen sozialpolitischen Initiativen verschlossen.

Der Gedanke, das Soziale mit dem Liberalen zu verbinden, gilt vielen seither als abwegig, gar paradox. Sozial und liberal? – Entscheid dich doch!

Der Sozialliberalismus in der Krise

Zusätzlichen Auftrieb hat dieser Form des Denkens zuletzt die Wahl Norbert-Walter-Borjans und Saskia Eskens zu Parteivorsitzenden der SPD gegeben. Früh haben sie das Ziel ausgegeben, die “dunkle” Schröder-Periode final hinter sich zu lassen und den Weg anzutreten, zurück zu den politisch-programmatischen Wurzeln. Weg mit dem Ziel einer Liberalisierung der Sozialdemokratie – und zurück zu alten Werten; zu mehr Umverteilung und Steuergerechtigkeit also und einem höheren Maß sozialer Gleichheit – kurz: zu mehr Etatismus. Nur folgerichtig, dass Rot-Rot-Grün unmissverständlich als primäres Bündnis-Ziel ausgegeben und eine Ampel höchstens als Ultima-Ratio politischer Bündnisbildung in den Raum gestellt wurde.

Klar: Aus der Luft gegriffen ist die Kritik am praktisch umgesetzten “Sozialliberalismus” nicht. In den Hintergrund gerückt ist dabei jedoch, was Sozialliberalismus faktisch heißt, welche Chancen er birgt und welch positives Potential ihm gerade in dieser durch beispiellosen Illiberalismus, Sicherheitsdenken und Stagnation geprägten politischen Zeit innewohnt.

Die sozialliberale Magie besteht in der Verbindung von Wirtschaft, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit!

Sozialliberalismus heißt nämlich nicht, den globalen Kapitalismus kopfnickend als alternativlos darzustellen, alle Lebensbereiche der Marktlogik zu unterwerfen und soziale Fragen wirtschaftlichen Zwängen zu unterziehen. Ganz im Gegenteil steht er für das mutige Bekenntnis, dass Soziale freiheitlich zu lösen, das Individuum zum Ausgangs- und Endpunkt jeder Politik zu betrachten, es aber gleichzeitig in seinem Eingebettetsein in gesellschaftliche Ungerechtigkeitsstrukturen zu begreifen. Gerade ein sozialdemokratisch geprägter Sozialliberalismus muss dabei die Schattenseiten des deregulierten globalen Kapitalismus beleuchten und dessen Gefahr für unsere soziale (!) Marktwirtschaft in den Vordergrund rücken. Er muss zeigen, dass ohne Verteilungsgerechtigkeit keine Freiheit zu machen ist, Menschen in ökonomisch prekären Lagen nicht frei sein können, und Freiheit immer die Freiheit der Vielen ist. Er muss Ungerechtigkeiten anerkennen, muss sich der Notwendigkeit politischer Lösungsansätze bewusst sein, seine Vorschläge aber immer an der Besserstellung von Individuen und nicht nach einem wie auch immer gearteten Kollektiv ausrichten. Er muss für einen Aufschwung durch Innovation und Digitalisierung stehen, für soziale Gerechtigkeit durch einen robusten Sozialstaat, Steuergerechtigkeit und Bildungschancen und für ein klares Bekenntnis zu Freiheitsrechten und Datenschutz als Lebenselixier der liberalen Gesellschaft. Gleichzeitig muss er allerdings auch verdeutlichen, dass es nicht die Marktwirtschaft, ökonomische Freiheiten oder die Privatwirtschaft per se sind, die Keim sozialer Ungerechtigkeit sind, sondern deren mangelnde Regulierung. Seine Magie liegt demnach in der Verbindung gesellschaftlicher Teilhabe, wirtschaftlichen Aufschwungs und innerer Freiheit2https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar-wir-brauchen-einen-sozialliberalismus-des-21-jahrhunderts/25407342.html?ticket=ST-18625632-SzaBoqJVWaKacdGPkyoe-ap5.

Der Sozialliberalismus ist also eine Absage an unsolidarischen Individualismus, gleichmacherischen Kollektivismus und sicherheitsfetischisierenden Konservatismus gleichermaßen – und damit genau das, was es aktuell braucht! Eine SPD, die sich als Fortschrittspartei begreift, täte gut daran, eine solche sozialliberale DNA zu kultivieren oder Sozialliberalen zumindest eine angemessene Plattform zu bieten. Die sozialliberale Idee aufzugeben oder sie den Grünen oder der FDP zu überlassen, wäre jedenfalls fatal und würde weiter kratzen an der Godesberger Idee, die SPD für Menschen aus allen gesellschaftlichen Milieus und Gruppen ansprechbar und wählbar zu machen. Ziel der SPD muss es bleiben, sowohl die Partei derer zu sein, die Solidarität brauchen, als auch derer, die Solidarität zu geben bereit sind. Eine Partei also, die für Arbeitnehmer*innen ebenso wie für Arbeitgeber*innen wählbar ist und für übergreifende gesamtgesellschaftliche Solidarität einsteht. Denn nur so kann sichergestellt werden, dass die SPD nicht zur Klientelpartei mutiert und ihren Weg antritt, zurück zu alter Stärke. Ohne Sozialliberale ist das schlicht nicht zu machen.

Diskurs, Diskurs, Diskurs

Klar sollte aber auch sein: Nur wenn dezidiert Linke, Pragmatiker und Sozialliberale alle unter dem Dach des Wertetrias Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in der gleichen Partei aktiv sind und dabei innerparteiliche Solidarität leben, kann die SPD Volkspartei bleiben. Wichtig ist der konstruktive Streit, die faire Auseinandersetzung und der undogmatische Austausch. Die SPD ist, die SPD bleibt eine Partei, die Meinungspluralismus als Stärke und nicht als Schwäche begreift – das gilt es auch von sozialliberaler und pragmatischer Seite anzuerkennen. Ohne Genoss*innen wie Kevin Kühnert, Jessica Rosenthal und anderen Parteilinken wären wir einfach nicht, was wir sind.

Kritik und inhaltlicher Diskurs, auch in Reaktion auf diesen Artikel, ist daher wichtig. Was meinen Sozialliberale genau, wenn sie von einer Verbindung von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit reden? Welches Bild von Freiheit liegt ihnen eigentlich zugrunde? Diese kritischen Reaktionen sind keine Angriffe auf Pluralismus oder Meinungsvielfalt, sie sind Teil jenes konstruktiven Diskurses, der Markenkern der SPD ist. In Angriffen oder Austritts-Forderungen aber sollte sie nicht münden.

Umso bedauerlicher, dass dies zuletzt immer öfter passiert. Nicht nur im nicht-repräsentativen Mikrokosmos Twitter, auch in der Partei selbst wird Genoss*innen immer wieder nahegelegt, die Partei doch zu wechseln – zu liberal, zu pragmatisch, zu konservativ seien sie für einen wirklich linken Aufbruch. Abgänge, wie der des ehemaligen Mittelstandsbeauftragten der SPD Harald Christ (einer wichtigen sozialliberalen Stimme) im letzten Jahr sind vor diesem Hintergrund Anlässe, die nachdenklich stimmen sollten. Geben wir wirklich noch einem breiten Spektrum an Stimmen in allen Parteistrukturen ausreichend Raum? Wie ist es bestellt um die Diskussionskultur in der Partei? Und vor allem: Wie werden wir unserem Anspruch, Volkspartei zu sein, in der aktuellen Zeit gerecht? Antworten auf diese Fragen können natürlich unterschiedlich ausfallen. Stellen sollten wir sie trotzdem.

Mehr Mut zur Ampel

Fernab parteiinterner Diskussionen sollte es der SPD also um innerparteiliche Solidarität und ein gemeinsames Vorgehen gehen. Dazu mahnt uns schlicht unsere durch den Siegeszug autokratischer Populisten geprägte Zeit. Besonders wichtig ist dabei: Wir sollten mit eigenem Profil auftreten – und trotzdem offen sein für unterschiedliche Koalitionen. Und dazu gehört eben auch eine Ampel auf Bundesebene. Diese kategorisch auszuschließen, die FDP bis auf alle Ewigkeit als neoliberale Schutzmacht reicher Konzerne zu diskreditieren – das wäre falsch. Mehr Mut zu Sozialliberalismus heißt deshalb auch: Mehr Mut zu unterschiedlichen Koalitionen – auch zu einer Ampel. Die nämlich wäre ein wirklich progressiver Aufbruch, der außenpolitisch die liberale Werteordnung verteidigt, innenpolitisch für Bürger- und Freiheitsrechte steht und sozialpolitisch für mehr Gerechtigkeit sorgt. Sei es das elternunabhängige Bafög, die Einführung eines Bürgergelds oder die Modernisierung und Digitalisierung der Bildungswelt – die drei Ampel-Parteien verbindet schon jetzt mehr als weithin angenommen. Natürlich muss sich trotzdem noch viel tun, und zwar auf allen Seiten. Eine Chimäre ist rot-grün-gelb deshalb aber nicht. Und unzeitgemäß noch viel weniger.

Für einen neuen “Dritten Weg”

Denn ähnlich wie im Jahre 1969 leben auch wir in einer Zeit der Polarisierung, des Frusts und der politischen Lähmung, ähnlich wie im Jahre 1969 gibt es Reformbedarf in puncto Bildungspolitik und bürgerliche Freiheiten; und ähnlich wie im Jahre 1969 gilt es, daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Das heißt konkret: Mehr Sozialliberalismus wagen und den Bremsklotz CDU endlich in die Opposition schicken. Die Zeit, in der das Soziale und das Liberale als Gegensätze gedacht werden, muss in jedem Falle vorbei sein. Es ist höchste Zeit für einen neuen “Dritten Weg” – einen Weg, der das Soziale mit dem Liberalen verbindet.

Von Felix

Felix ist 19 Jahre alt, hat nach erfolgreichem Abitur ein FSJ im Schweriner Landtag gemacht und studiert jetzt Philosophy, Politics and Society and der Radboud Universität in Nijmegen. Sein besonderes Interesse gilt internationalen und europapolitischen Themen. In die SPD ist er im Frühjahr 2019 eingetreten.

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