“Gab’s das vorher eigentlich schonmal?”, fragt mich der Journalist vom SWR. Dass Jusos, Grüne Jugend, Junge Liberale und Junge Union in Baden-Württemberg gemeinsam zu einer Demo aufrufen? “Wenn ja, ist es wirklich lange her”, antworte ich und blicke auf ein Meer von Ukraine-Flaggen. Wir hatten die Kundgebung im Hauruckverfahren organisiert, nachdem die Lage an der ukrainisch-russischen Grenze zu eskalieren drohte – in der Hoffnung, es würde nicht zum Äußersten kommen.
Es ist der Abend des 24. Februars 2022 und die Hoffnung ist weg. Vor dem (damaligen) russischen Honorarkonsulat in Stuttgart stehen hunderte Menschen, die meisten sind junge Leute unter 30. Nach dem Fall der Berliner Mauer, nach dem Ende des Kalten Krieges geboren, kennen wir die Kriege der 1990er in Mittel- und Südosteuropa nur aus Geschichtsbüchern.
#StandWithUkraine heißt noch nicht mehr als ein vages “Wir zeigen Solidarität mit der Ukraine”. Darauf können sich unsere Jugendorganisationen problemlos einigen, wir Demokrat:innen stehen zusammen, auch wenn wir uns sonst gerne und ausgiebig zoffen. Zum Glück.
Als wir uns in der Eiseskälte wieder verabschieden, schweifen meine Gedanken zu meinem eigenen Verband: Ob dieser Tag wohl die Debatte über Sicherheit und Verteidigung bei den Jusos auf den Kopf stellen wird?
In den nächsten Wochen gibt es Neuigkeiten im Minutentakt – Sanktionen, Waffenlieferungen, Militärausgaben. Bundeskanzler Olaf Scholz tut, was er in besonders angespannten Situationen am besten kann: Überraschen. Überraschen mit seiner “Zeitenwende-Rede” im Bundestag und der Ankündigung eines 100-Milliarden-Euro-Sondervermögens für die Bundeswehr.
Genau dieses Sondervermögen geht nach langem Hin und Her mit der Opposition noch diese Woche ins Parlament – in dem seit der letzten Bundestagswahl eine Rekordzahl an Jusos sitzt. Von der Mehrheit dieser Jusos weiß ich, dass sie zustimmen werden. Entgegen der Position des Juso-Bundesverbands. Und das ist gut so.
Willkommen in der sicherheitspolitischen Realität
“Aber das hilft der Ukraine doch gar nicht”, höre ich Leute schon argumentieren, während ich diesen Satz schreibe. Stimmt, zumindest nicht unmittelbar – doch wir müssen uns der geopolitischen Realität stellen.
Ja, der Angriffs- und Vernichtungskrieg Russlands auf die Ukraine hat die internationale Sicherheitsordnung zerbröselt. Aber europäische wie deutsche Abgeordnete und Regierungsmitglieder waren auch ausgesprochen talentiert darin, die Risse im sicherheitspolitischen Fundament über Jahre hinweg zu ignorieren. Wladimir Putin konnte 2014 die Halbinsel Krim zwar unter halblauter Kritik, aber mit wenig spürbaren Konsequenzen annektieren. Die Weltgemeinschaft sah zu.
Die Leaks über die Internierungslager und grausame Unterdrückung der uigurischen Minderheit im Westen Chinas sind erst ein paar Tage alt, die Erkenntnis dagegen deutlich älter: China begeht einen Genozid. Die Weltgemeinschaft sieht zu.
Die klassischen Fronten des 20. Jahrhunderts mögen viele noch vor Augen haben, in Wahrheit spielen neue Akteur:innen auf internationalem Parkett längst mit. Und wer froh darüber ist, dass momentan wenigstens kein Soziopath im Weißen Haus sitzt, könnte bei den Primaries im Herbst und spätestens bei den Präsidentschaftswahlen 2024 ein böses Erwachen erleben: Mehrheiten für eine stramm rechte GOP sind keinesfalls ausgeschlossen. Was das für die außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit den USA bedeuten würde, sollte uns aufschrecken lassen.
Es geht um nicht weniger als den Kampf für Demokratie und Freiheit
Die Bundeswehr muss als Teil der NATO in der Lage sein, Freiheit und Demokratie zu verteidigen. Wenn Autokratien und Diktaturen unsere Gesellschaften gewaltsam bedrohen, müssen wir dem auch militärisch die Stirn bieten können. Ja, “Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg.” gilt heute so sehr wie lange nicht. Aber dieser Ausruf muss in genau dieser Reihenfolge gelten. Denn Faschismus und Imperialismus müssen wir uns mit aller Macht entgegenstellen. So wie es die ukrainische Armee gegenüber Russland tut. Und so wie es unsere östlichen Bündnispartner:innen im Fall einer Konfrontation der NATO mit Russland als erstes täten. Diese Länder müssen sich auf uns verlassen können.
In 16 Jahren Verteidigungsministerium haben es CDU/CSU geschafft, die Bundeswehr gnadenlos herunterzuwirtschaften. Eine Hausnummer: Von den 100 Milliarden Sondervermögen werden allein 20 Milliarden Euro (!) zum Auffüllen der Munitionsbestände draufgehen. Eine anständige Ausstattung der Bundeswehr muss Selbstverständlichkeit sein, genauso wie ein modernes Beschaffungswesen. Denn klar ist am Ende auch: Unser Ziel bleibt die diplomatische Konfliktbeilegung. Verhandlungen aber aus einer Position der Schwäche heraus zu führen, ist im Angesicht der brutalen russischen Aggression nicht nur naiv, sondern brandgefährlich.
Treffen sich zwei Jusos auf ein Bier und reden über die Schuldenbremse
Jusos wissen, was ich meine: Die Party am Rande der Verbandsveranstaltung läuft, Musik dröhnt aus den Lautsprechern, vor der Location stehen Jusos mit einer Kippe in der einen und einem Bier in der anderen Hand und philosophieren über die Rettung der Welt.
Wie letztes Wochenende bei der diesjährigen Jugendkonferenz in Berlin. Natürlich kommt das Thema Sondervermögen auf und mein Gegenüber meint: “Bevor die Schuldenbremse nicht abgeschafft wird, muss mir auch niemand mit 100 Milliarden für die Bundeswehr kommen!”
Unsere Juso-Bundesvorsitzende Jessica Rosenthal formuliert in einem SPIEGEL-Gastbeitrag: “Ohne die Schuldenbremse, die uns in so vielen Bereichen dringend notwendige Investitionen unmöglich macht, bräuchten wir kein Sondervermögen für die Bundeswehr.”
Widerspreche ich dem? Nein. Im Gegenteil. Das Sondervermögen für die Bundeswehr ist nur die zweitbeste aller Lösungen – die beste wäre eine grundlegende Reform oder die Abschaffung der Schuldenbremse.
Das große “Aber”: Ein Sondervermögen, also ein “Extrahaushalt”, der aus dem Bundeshaushalt ausgelagert wird, ist in der aktuellen politischen Situation sogar sinnvoll. Denn es muss in die Bundeswehr investiert werden.
Die Ampel ist die Koalition der nächsten Jahre und damit sitzt die FDP mit am Kabinettstisch. Finanzminister Christian Lindner weigert sich, für mehr Einnahmen zu sorgen, beispielsweise an der Erbschaftssteuerschraube zu drehen. Außerdem setzt die Abschaffung der Schuldenbremse eine Grundgesetzänderung voraus und dafür braucht es wiederum eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Wäre mit der Linkspartei was zu machen? Reicht bei Weitem nicht für Zweidrittel. Mit der Union? Come on. Die ist inhaltlich so entkernt, dass sie um alles in der Welt an ihrer Schuldenbremse festhalten wird – da spielt das bessere politische Argument schlicht keine Rolle. Und über die AfD wollen wir hier gar nicht erst diskutieren.
Als Jusos müssen wir dieses starre Festhalten an neoliberalen Glaubenssätzen kritisieren, klar. Doch gehen wir gedanklich mal die Alternative durch: Was passiert, wenn das Sondervermögen am Freitag im Bundestag scheitert? Dann muss Geld aus dem Bundeshaushalt in die Bundeswehr fließen – und zwar nicht zu knapp. Die Verteilungskämpfe, vor denen gerade wir Jusos warnen, gehen damit erst richtig los.
Dabei stehen zahlreiche Projekte an, die Azubis, Studis und Arbeitnehmer:innen angesichts der steigenden Inflation entlasten sollen: Klimageld, Energiepauschale, Kindergrundsicherung und mehr. Maßnahmen, die neben der militärischen die soziale Sicherheit stärken. Gleichzeitig wird Deutschland international auch im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe mehr Verantwortung übernehmen müssen. Ohne das Sondervermögen steht all das in
Konkurrenz zu Investitionen in die Bundeswehr – denn die Schuldenbremse wird in naher Zukunft nicht fallen.
Wer großen Fortschritt will, muss kleine Schritte machen
Bei einer Party morgens um halb vier über Visionen zu debattieren, gehört zum Juso-Leben. Als politischer Jugendverband der größten Regierungspartei mit 49 Jusos im Bundestag müssen wir uns aber die Frage stellen, ob wir am Fortschritt step by step mitarbeiten wollen – oder ob wir uns komplett verweigern. “Alles oder nichts” ist das falsche Politikverständnis.
Jessica schreibt in ihrem Gastbeitrag, das Sondervermögen sei “zu klein gedacht”. Das Sondermögen abzulehnen, nicht aus grundsätzlichen Zweifeln, sondern weil das Non plus ultra mit FDP und Union nicht umsetzbar ist, aber auch.