Heute am 4. Februar wird das deutsche Betriebsrätegesetz 100 Jahre alt. Seine Verabschiedung war der Beginn einer langen Reise, die schließlich auch zu unserem heutigen Betriebsverfassungsgesetz führte. Grund genung, einmal auf eine der Säulen unserer Wirtschaftsordnung zu blicken – die Mitbestimmung.
Die andere Demokratie
Der schönste Satz über Mitbestimmung stammt aus der Partei, von der man es vielleicht am wenigsten erwartet. „Der gleiche Staatsbürger, der Gesetzgebungsorgane wählt, auf die Bildung seiner Regierung Einfluss nehmen kann, darf als Wirtschaftsbürger nicht wieder zum Untertan degradiert werden.“ Das sagte nicht etwa ein Sozialdemokrat oder Gewerkschafter, auch kein Christdemokrat, es war nicht mal ein Grüner. Der Satz stammt von Wolfgang Mischnick, der von 1968 bis 1991 Fraktionsvorsitzender der FDP im Deutschen Bundestag war.
Er macht deutlich, worum es bei Mitbestimmung geht. Es geht nicht nur um Schutz vor Diskriminierung, nicht nur um gute Arbeitsbedingungen, nicht nur um eine sozialere Wirtschaft (obwohl all das für sich schon reichen würde) – es geht um Demokratie! Es geht darum, dass Arbeitnehmer über ihre Arbeitsbedingungen mitentscheiden sollen. Es geht um „Die andere Demokratie“, so der Titel eines bekannten Buches. Eine Demokratie, die mit der „politischen Demokratie“ auf einer Ebene steht.
Der demokratische Markt – das hierarchische Unternehmen
Manch einer argumentiert jetzt, dass Märkte doch schon für sich genommen demokratisch wären. Das mag in der Theorie durchaus richtig sein. Zumindest sofern wir von einem vollkommenen Markt sprechen, über dessen Existenz man streiten kann. Ein solcher Markt bräuchte aber auch keine Unternehmen, weil eben tatsächlich der Markt alles regeln würde. Das stellte 1937 bereits der spätere Nobelpreisträger Ronald Coase fest. Coase legt in seinem berühmten und häufig zitierten Aufsatz „The Nature of the Firm“ 1https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/j.1468-0335.1937.tb00002.x dar, warum es Unternehmen überhaupt gibt. Kern seines Arguments ist, dass Transaktionskosten (auch wenn Coase selbst dieses Wort noch nicht benutzt) die Koordination über eine zentrale Instanz effizienter machen würden als die Regelung über den Markt. “We may sum up this section of the argument by saying that the operation of a market costs something and by forming an organisation and allowing some authority (an “entrepreneur”) to direct the resources, certain marketing costs are saved.”
Coase komplette Argumentation darzulegen, würde hier zu weit gehen und hätte auch nur lose mit dem Gegenstand dieses Textes zu tun. Für uns ist hier nur wichtig festzustellen, dass die Frage, inwiefern Märkte demokratisch sind oder nicht, für die Bedeutung der betrieblichen Mitbestimmung irrelevant ist. Sobald wir über das Innenleben von Unternehmen reden, reden wir eben nicht mehr über den Markt. Zwar operieren die Unternehmen selbst auf einem Markt, innerhalb der Unternehmen gilt aber eine klare Hierarchie, nicht der Markt.
Damit wird auch der Umkehrschluss zu Mischniks Satz klar: Kapitalismus ohne Mitbestimmung ist nicht demokratisch. Der Arbeitnehmer wird so zum Untertanen degradiert. Nicht wegen der Märkte, sondern wegen der Machtverteilung in den Unternehmen. Hierarchie ist eben per se erstmal keine demokratische Angelegenheit und ein Arbeitnehmer hat per se erstmal keinen Einfluss auf die Entscheidungen, denen er im Arbeitsleben unterworfen ist. Er wählt nicht mal die Unternehmensführung.
Deswegen ist es auch kein Scherz und keine zulässige Haltung, wenn Start-ups wie die Onlinebank N26 meinen, Betriebsräte würden gegen ihre Firmenkultur verstoßen. Es ist ein Angriff auf unsere freiheitliche Gesellschaft. Und klar sollte auch sein: Weder ein Tischkicker im Büro, noch das Duzen des Vorgesetzten und auch keine finanzielle Beteiligung am Unternehmen sind ein hinreichender Ersatz für demokratische Strukturen. Wir ersetzen ja auch den Bundestag nicht durch „Freibier für Alle“.
Mitbestimmung konkret
Aber was bedeuten diese theoretischen Ausführungen für den einzelnen Arbeitnehmer? Wäre Mitbestimmung nur aus der Sicht der Demokratietheorie oder der politischen Philosophie richtig, würden diese vermutlich nicht deutlich über 60% der Arbeitnehmer positiv bewerten. So groß ist die Begeisterung für theoretische Glanzleistungen in der Regel nicht.
Nein, Mitbestimmung hat für die Menschen in mitbestimmten Unternehmen eine sehr konkrete Bedeutung. Mitbestimmung bedeutet konkret mehr Weiterbildungsangebote, mehr betriebliche Gesundheitsförderung und mehr Flexibilität in der Gestaltung der Arbeitszeit. Mitbestimmung bedeutet eine bessere Integration von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und eine bessere Ausbildung sowie eine höhere Bleiberate nach Abschluss derselben. Und fast immer führt Mitbestimmung zu einer höheren Motivation der Arbeitnehmer. Warum? Das lässt sich nicht immer im Einzelnen sagen, aber die These liegt nahe, dass Arbeitnehmer sich mit einem Unternehmen über das sie mitbestimmen einfach stärker identifizieren können. Und mit stärkerer Identifikation kommt höhere Leistungsmotivation 2https://www.mitbestimmung.de/html/vorteil-mitbestimmung-6575.html.
Das Einzige, bei dem Mitbestimmte unter Nichtmitbestimmten liegen, ist in der Höhe der Managervergütung. So wundert es auch wenig, dass Länder mit einer starken Mitbestimmungskultur eine geringere Einkommensungleichheit aufweisen.
Die wirtschaftlichen Vorteile der Mitbestimmung
Mitbestimmung ist nicht nur demokratisch geboten und gut für die Arbeitnehmer, sie ist auch wirtschaftlich vorteilhaft. Unternehmen mit Mitbestimmung haben eine höhere Investitionsquote, entwickeln sich auf dem Aktienmarkt (!) besser, haben einen höheren Nettoumsatz und eine höhere Produktivität.
Wenden wir uns speziell der Mitbestimmung in Aufsichtsräten zu, so hat eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung 3https://www.imu-boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=8419 belegt, dass sich solche Unternehmen seit der Finanzkrise wirtschaftlich besser entwickelt haben. Betrachten wir nur den operativen Erfolg, sehen wir bereits ein deutliches Ergebnis. Wenig überraschen litt natürlich die Rentabilität aller betrachteten Unternehmen in der Finanzkrise. Bei Unternehmen mit Arbeitnehmerbeteiligung in Aufsichtsräten wurde diese Entwicklung jedoch abgeschwächt. Die Umsatzrendite mitbestimmter Unternehmen stieg in der Finanzkrise sogar um 2,7% und im unmittelbaren Anschluss um weitere 1,4%. Zum Vergleich: In nichtmitbestimmten Unternehmen sank sie um 3,1%.
Ein häufiges Argument gegen Mitbestimmung im Allgemeinen und vor allem in Aufsichtsräten ist, dass man damit Investoren abschrecken könnte. Dies ist ein Trugschluss, der empirisch widerlegt ist. Die kumulierte Aktienrendite mitbestimmter Unternehmen lag zwischen 2006 und 2011 ganze 28 Prozentpunkte (7,2% vs. -21%) über der vergleichbarer Unternehmen ohne Mitbestimmung. Mitbestimmte Unternehmen erreichen höhere Renditen, geringere Kapitalmarktschwankungen und ihre Kurse brachen in der Finanzkrise weniger ein. Investorenschreck? Wohl kaum.
Wie geht’s das, fragt man sich jetzt? Auf größere Entlassungen haben mitbestimmte Unternehmen in der Krise verzichtet. Wie wurde dann auf sinkende Umsätze reagiert? Man korrigierte das Arbeitsentgelt nach unten, vor allem in dem man die Arbeitszeit senkte. Es klingt erst einmal verblüffend, dass so etwas in mitbestimmten Unternehmen eher möglich ist, als in Nicht-Mitbestimmten. Der Grund ist aber einfach: In mitbestimmten Unternehmen herrscht ein größeres Vertrauen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, so dass man viel leichter in der Lage ist Kompromisse zu schließen, um ein Unternehmen aus der Krise herauszukommen. Die Arbeitsentgelte sind im Übrigen auch schnell wieder auf das Vorkrisenniveau gestiegen.
Dadurch, dass man nie im großen Stil Mitarbeiter entlassen hatte, war es nach der Krise vergleichsweise leicht, die Produktion schnell wieder hochzufahren. Unternehmen, die auf die Krise mit Massenentlassungen reagiert hatten, blickten währenddessen in die Röhre. Zu recht!
Mitbestimmung 4.0
Mitbestimmung ist also unzweifelhaft ein Teil der deutschen Erfolgskultur. Wie einen guten Garten, muss man aber auch eine institutionelle Errungenschaft stetig pflegen, um die Schönheit zu bewahren. Was beim Garten durch Gießen, Schneiden und das Anpflanzen neuer Pflanzen geschieht, passiert bei Institutionen durch eine konsequente Weiterentwicklung und Anpassung an die Bedingungen der Gegenwart. Unsere Wirtschaft hat sich weiterentwickelt, die Mitbestimmung muss mitziehen, wenn sie auch in Zukunft ihre Stärke bewahren will4https://www.imu-boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=8888 und https://www.imu-boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=8896.
Und so gibt es durchaus einen lebendigen Diskurs darüber wie ein Betriebsverfassungsgesetz 4.0 aussehen könnte, dass den Anforderungen an eine digitalisierte Arbeitswelt gerecht wird. Dabei geht es darum, wie man mit neuen Überwachungsmöglichkeiten umgehen kann. Kann der Betriebsrat über die Anschaffung neuer Technik mitentscheiden? Immerhin prägt doch die Technik massiv die Art des Arbeitens. Wie umgehen mit einer potentiellen Entgrenzung der Arbeitszeit? Das beliebte Thema Home-Office, was haben Betriebsräte da zu entscheiden? Und wie sieht es eigentlich aus mit dieser Plattformökonomie? Diese Fragen lassen sich nicht in einem Text beantworten, erst recht nicht von mir. Fakt ist aber, man wird sie beantworten müssen.
Die andere große Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist natürlich die Globalisierung und auch sie stellt die Betriebsratsarbeit vor neue Herausforderungen. Betriebsräte sind in dieser Form eine deutsche Institution, die es in ähnlicher Weise zwar in ein paar anderen Ländern gibt, aber doch auch nicht ganz. Globale Unternehmen erfordern aber auch globale Mitbestimmungsstrukturen. Hier sind zwar mit der Einführung Europäischer Betriebsräte schon wichtige Schritte getan worden, aber die Reise ist noch lange nicht vorbei.
Ein weiteres Problem sind Betriebe ohne Bertriebsrat. Wer solche Betriebe kennt, weiß, dass Mischnik keineswegs übertreibt, wenn er meint Arbeitnehmer würden ohne Mitbestimmung zu bloßen Untertanen degradiert. Manche Unternehmen versuchen sogar aggressiv die Bildung von Betriebsräten zu verhindern. Dass ist zwar eigentlich strafbar, wird aber nicht überall ernsthaft verfolgt. Geboten wäre es eigentlich, ein solches Verhalten über landesweite Schwerpunktstaatsanwaltschaften, wie wir sie etwa auch bei manchen Wirtschaftsdelikten haben, zu verfolgen. Dafür fehlt aber in vielen Bundesländern der politische Wille.
Auch eine Weiterentwicklung der Mitbestimmung in Aufsichtsräten ist möglich. Echte Parität, lautet hier das Stichwort. Heute ist es so, dass in Streitfragen die Kapitalseite, sollte sie geschlossen abstimmen, immer die Mehrheit hat. Denn bei Stimmengleichheit entscheidet der Aufsichtsratsvorsitzende, den stets die Kapitalseite stellt. Echte Parität wäre erreicht, wenn man eben diesen Mechanismus entfallen ließe. Dann bräuchte die Kapitalseite für jede Entscheidung mindestens eine Stimme aus dem Arbeitnehmerblock und andersherum. Es wäre nun unmöglich Entscheidungen einfach aufzuoktroyieren, stattdessen müssten Kompromisse her. Ist ein möglicher Vorstandsvorsitzender etwa für die Beschäftigten inakzeptabel, dann wird es bei echter Parität eben auch nicht Vorstandsvorsitzender, egal wie gerne die Kapitalseite ihn gerne hätte. Das nennt man Demokratie!
Fazit
Was wir brauchen ist ein breiter Dialog darüber, wo und wie sich unsere Mitbestimmungskultur verbessern lässt – am besten schon in der nächsten Legislaturperiode! Denn die Geschichte der Mitbestimmung ist eine Erfolgsgeschichte, die es auch in Zukunft weiterzuschreiben gilt.
Am 4. Februar 2020 wird das Betriebsrätegesetz 100 Jahre alt. Es ist nicht unser heutiges Betriebsverfassungsgesetz und seitdem hat sich schon viel getan und es wird sich noch viel tun müssen, aber es ist die Wurzel von all dem. Für mich ist das der vielleicht schönste Geburtstag des Jahres, und vielleicht ja auch für Sie.