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Plattformkapitalismus: Die Frage, die niemand stellt.

Es wird immer wieder über den guten, je nach Perspektive dem bösen, Neoliberalismus gestritten. Doch diese Diskussionen sind veraltet. Der Plattformkapitalismus ist die Frage, die niemand stellt und die Antwort, die jedem fehlt. Gerade Sozialdemokrat*innen sollten hier ein wachsames Auge behalten.

Zierten früher (gewiss auch noch heute) große Kirchen das Antlitz vieler Marktplätze, auf denen mit Fisch und Fleisch gehandelt wurde, erstrahlt heute in größeren Städten und Metropolen oft ein großer Apfel den Anblick wichtiger Stadtpassagen. Nicht zum Verzehr, aber umso mehr zum Konsum geeignet, erweist sich die minimalistische Architektur eines jeden Apple-Stores als einzigartig – mindestens so einzigartig wie es das Unternehmen Apple selbst, ihr Gründer und die Marktmacht dieses Riesens sind. So ein Besuch eines großen Stores mag dokumentiert werden: auch dafür kann schnell Abhilfe gefunden werden, denn die auf vielen Smartphones vorinstallierte Facebook-App ermöglicht es schnell und unkompliziert, Erlebnisse zu teilen. Zusätzlich muss bedacht werden, dass der Besuch selbst, ob er nun im Kauf oder im reinen Erleben mündet, eine Art Dienstleistung ist, ein Erlebnis. Um anderen Menschen – weltweit – einen Besuch zu empfehlen oder ihnen davon abzuraten, reicht es aus, auf die Anfrage von Google zu warten: „Wie hat Ihnen der Besuch in Apple Store gefallen?“. Alternativ ist es auch möglich, proaktiv schon eine Bewertung zu verfassen, allerdings kann man verlässlich darauf vertrauen, dass der Suchmaschinen-Gigant schon von sich aus sein Interesse kommunizieren wird. Mündete der Besuch des Apple-Stores tatsächlich in einem Kauf eines iPhones, so muss dieses natürlich vor den alltäglichen Belastungen geschützt werden. Der Online-Versandhändler-Riese Amazon erweist sich dabei als schneller und kostengünstiger Partner. Wenn es noch schneller gehen muss, ist die Handyhülle mit Amazon Prime bereits morgen da: dem Konsum digitaler Dienstleistungen wie Apple Music oder Amazon Prime Video, der Suche mit Google und dem Teilen auf Facebook steht nun nichts mehr im Wege.

So schön auch diese Erlebnisse sein mögen – andere bezeichnen sie eher als dystopisch -, umso unschöner ist es, wenn man sich die Mechaniken und die Systeme hinter dem Erfolg dieser Konzernriesen Google, Amazon, Facebook und Apple (GAFA) anschaut. Sie fußen auf den Wirkungsmechanismen des Plattformkapitalismus. Doch was ist das eigentlich?

Plattformkapitalismus

Wer diesen Artikel liest, wird es entweder mobil und dann über ein Gerät tun, dessen Betriebssystem von Google (Android) oder von Apple (iOS) stammt oder über einen PC, der damit höchstwahrscheinlich mit Microsoft Windows ausgestattet ist. Der Weg zu diesem Artikel wird vermutlich durch ein soziales Netzwerk geebnet worden sein oder – auch möglich – über den Suchmaschinendienst Google. Diese Beispiele fassen das Phänomen und die Wirkungsweise des Plattformkapitalismus (synonym kann auch Digitaler Kapitalismus verwendet werden) gut zusammen: ein System, in dem wenige, aber sehr große Unternehmen (meist Monopole) den Markt unter sich aufteilen und Angebot und Nachfrage als Intermediäre zusammenführen. Sie treten dabei nicht als normale Teilnehmer auf, sondern als Organisatoren für Handel, Kommunikation und Austausch. Teile der dadurch entstandenen Gewinne landen dann direkt bei ihnen.

Durch ihre vorteilhafte Stellung können sie als Gatekeeper auftreten, indem sie anderen Hersteller*innen oder Entwickler*innen den Zutritt zu ihrer Plattform verweigern oder sie aussperren – das jüngste Beispiel war dabei der Rauswurf der beliebten App „Fortnite“ aus dem Google Play Store sowie dem App Store von Apple. Warum? Weil Google und Apple die Macht haben, auf ihren Plattformen selbst zu bestimmen, wer seine Apps unter den Regularien der beiden Unternehmen veröffentlichen kann. Wer seine Apps vertreiben will, hat sich an die Regeln von Google und Apple zu halten und immer 30% der Gewinnmarge an diese beiden Unternehmen zu entrichten. Das ist ein weiteres Merkmal des Plattformkapitalismus: für das Geld müssen Plattformen nicht zwingend selbst arbeiten, sie erarbeiten Profite passiv durch andere, nämlich App-Entwickler*innen, die ihre App auf dem Markt von Google und Apple zu einem Preis anbieten.

Die Ressource dieser Unternehmen sind dabei: Daten. Google, Amazon, Apple und Facebook sind riesige Datensammler. Mit jedem Produkt, das man auf Amazon anklickt, lernt der Versandhändler etwas über den Kunden und kann ihm beim nächsten Öffnen der App Vorschläge unterbreiten, die so zielgenau sind wie es kein anderer (analoger) Händler gewährleisten kann. Mit der AWS Data Pipeline hat Amazon hierfür auch direkt eine eigene Software. Dadurch, dass so gut wie jedes Smartphone entweder mit Googles Android oder Apples iOS ausgestattet ist, erschleichen sich die beiden Unternehmen durch verbindliche Anmeldungen Zutritt in die privatesten Sphären des Menschen. Hinter der nostalgisch anmutenden Erinnerung, wo man am 23.01.2015 seinen Tag verbracht hat (Google Maps sei Dank!), steckt die Datensammelwut von Google. Auf Geheimnisse, die man in dieser Häufigkeit nicht mit seinen engsten Freunden teilt, weiß Google eine Antwort. Google ist unser bester Freund, der schönste Freund, der schlauste Freund und der vertrauenswürdigste Freund: 92% aller Suchanfragen der auf weltweit 73% Smartphones (24% Apple) mit Android-Betriebssystem werden von Google organisiert.

Doch wie kommt es zu dem Aufstieg und Wachstum dieser Unternehmen? Dies detailliert zu erläutern, das würde den Rahmen sprengen. Ein Faktor aber, der zum Beispiel Facebook zu einem Giganten gemacht hat, ist jener der Netzwerkeffekte. Plattformen werden aus Sicht der Nutzer*innen immer dann interessanter, je mehr Menschen sie nutzen, noch interessanter, wenn dort auch Personen aus dem persönlichen Umfeld angemeldet sind. Die Bilder aus dem letzten Urlaub sollen ja gesehen werden, sie sollen Likes erzeugen, sonst wendet man sich wieder ab von der Plattform. Und sie werden dadurch auch effizienter, weil sie mehr über ihre Nutzer erfahren. Amazon kann nur wachsen, je mehr Kunden den Dienst nutzen, kann Konkurrenz ausschalten (der Begriff ist berechtigt, führt die Domain des ursprünglich erdachten Namens für Amazon, relentless.com, auf ihre Seite), indem sie so viele Menschen wie möglich auf ihre Plattform locken. Durch ein Ökosystem von Amazon Alexa, Amazon Music & Video, Amazon Prime, etc. lernt die Plattform an mehreren Stellen gleichzeitig etwas über die Nutzer*innen und kann sehr passend analysieren, welche Serie man aufgrund welcher Suchanfragen auf der Shoppingseite anschauen möchte.

Schön und gut: was ist das Problem dabei?

Monopole sind nie gut, denn sie haben Macht, die existierende Konkurrenten (die sie durch ihr Geschäftsmodell einfach absterben lassen oder im Idealfall in die Kill Zone verfrachten und damit zu einem viel höheren Preis als sie es wert sind aufkaufen, ehe diese zur Konkurrenz werden können – siehe Facebooks Kauf von Instagram) nicht haben. Sie haben Wettbewerbsvorteile, die aus ihrer Größe und ihrer Macht entstehen, nicht Teilnehmer, sondern der „Gott“ von Märkten und damit Angebot und Nachfrage zu sein. Monopole hemmen außerdem Innovationen – die letzten Jahre waren verglichen mit denen davor innovationsarm und ja, auch die oben genannten führen Innovationen ein, aber nur dann, wenn es ihre Macht stärkt, nicht wenn diese Innovation nicht schon längst von einem StartUp (das sie zerstört oder aufgekauft haben) hätte eingeführt werden können.

Plattformen sind dazu – und das wird eine zentrale Rolle für die Sozialdemokratie sein – oftmals schlechte Arbeitgeber, wenn sie sich selbst überhaupt als solche verstehen. Sie stehlen sich mit dem Argument aus der Verantwortung, ja nur die Plattform zu sein, auf der Arbeit angeboten wird. Betrachten wir das Beispiel Uber, wird das hier deutlich. Die Fahrer*innen von Uber sind nicht bei Uber angestellt, sie sind selbstständig beziehungsweise scheinselbstständig: sie werden von Uber nicht sozialversicherungspflichtig abgesichert, bei Unfällen oder anderen juristischen Angelegenheiten tragen einzig und allein die Fahrer*innen jede Verantwortung und um sämtliche Verdienstausfälle, z.B. aus Krankheitsgründen, müssen sie sich selbst kümmern. Uber übernimmt keinerlei Verantwortung gegenüber seinen Fahrer*innen, sondern spricht gänzlich in der Philosophie der Gig-Economy davon, stolzer Innovator zu sein. Arbeitsrechtlich gibt es bei Uber keine Employer und keine Employee, das heißt eben, dass jeder Arbeitsschutz, der in normalen Arbeitsverhältnissen auftaucht, nicht gegeben ist. Innovativ ist Uber – aber auf wessen Kosten? Sein Brot verdient Uber im Übrigen, in dem es vollständig die Buchungsgebühren einbehält und 25% des Fahrpreises einnimmt – also auch wieder eine passive Einkommensquelle, die für Plattformen so typisch ist.

Viel Arbeit, die die großen Plattformen noch nicht digitalisieren konnten, entfällt auf Clickworker. Menschen, die im Verborgenen für die großen Unternehmen Bildbeschreibungen schreiben (Amazon), Bilder scannen und schauen, ob man diese der Öffentlichkeit zugänglich machen kann (unter anderem auch schreckliche Bilder und Videos von Tierquälerei, Folter, Hinrichtung, …) oder kurze Produktbeschreibungen schreiben. Wer gut ist, kann hierbei 4-5 Euro die Stunde verdienen, was stark unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegt. Amazon MTurk ist dabei ein Beispiel für diese Arbeitsquelle. Auch hier haben die Arbeitenden keinerlei Arbeitsschutz, denn sie suchen sich ihre Arbeit aus einer Liste von der Plattform (Amazon) aus und führen sie aus. Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichtes bestätigt hier den Nachholbedarf, Clickworking-Arbeit von Selbstständigkeit zu trennen.

Außerdem erfassen die Plattformen unvorstellbare Mengen an Daten, die ihnen zu jederzeit einen Wettbewerbsvorteil verschaffen: durch Google Pay und Apple Pay wissen die Riesen nun auch mit jeder Transaktion, was man wann wo in welcher Menge und für welchen Preis gekauft hat. Das ist ohne Frage praktisch – aber jedes Individuum und jede Gesellschaft muss sich die Frage stellen, ob man in einer Welt leben möchte, in der sehr wenige Unternehmen, die ihr Wissen nie teilen, so viel über einen wissen und einen manipulieren können.

Apropos Manipulation: Facebook. Der Algorithmus von Facebook weiß natürlich auch über alles Bescheid. Durch die Größe von Facebook hat das Unternehmen die Macht, alleine durch seine Funktionslogik Einfluss auf Politik zu nehmen: indem es bewusst darauf verzichtet, Fake News als Fake News zu kennzeichnen (berühmtes Beispiel ist hierbei der Brexit), in dem es Menschen sich politisch radikalisieren lässt (man sieht nur Beiträge, die ins eigene Weltbild passen) und indem es nicht zuletzt auch Politiker*innen nutzt, in dem es ihnen erklärt, bei welcher Wählergruppe sie wie wann und womit punkten können. Der ehemalige US-Präsident Obama hat sich die Technik Facebooks zu nutze gemacht, um genau herauszufinden, welche Mitteilungen er wo schalten lassen muss. Donald Trump ebenso. Politische Anwärter*innen, die sich offen gegen die Macht von Google oder Facebook aussprechen, werden auf die vernichtende zweite Seite von Google verfrachtet oder finden bei Facebook einfach nicht statt. Diese Macht privater Digitalmonopole ist erschreckend.

Aussicht

Die politischen Bemühungen gegenüber diesen Plattform-Monopolen sind oftmals nur ein Tropfen auf den heißen Stein – am aktivsten ist hierbei noch die EU-Kommission zu nennen, die Sanktionen oder Verfahren verhängt. Doch all das hat die Unternehmen nicht aufgehalten zu wachsen. Die Abhängigkeit, in der wir uns heute von US-amerikanischen Firmen befinden, wird sich noch weiter verschärfen, wenn weder in den USA noch hier in Europa keine Maßnahmen gefunden werden, wie die Ausbreitung dieser Monopole gebremst und das Entstehen neuer Unternehmen gefördert werden kann. Was in diesem Artikel nicht berücksichtigt wurde, ist dabei der Aufstieg der chinesischen Plattformen Baidu, Alibaba und Tencent (dazu später mehr in einem anderen Artikel).

Wenn wir jetzt nicht handeln und auch nicht selbst dafür sorgen, dass im EU-Raum Unternehmen entstehen, die als Plattformen funktionieren (wie Spotify aus Schweden), werden wir den Sprung in die nächsten Jahrzehnte verpassen und uns wirtschaftlich weiterhin von den Technologien des letzten Jahrhunderts ernähren, falls diese nicht durch die großen vier subsummiert werden. Ohne Frage werden Google, Amazon, Facebook und Apple sowie das chinesische Trio weiter wachsen, ohne dabei Rücksicht auf Arbeitsschutz oder EU-Regularien zu nehmen (an diese halten sie sich stiefmütterlich zumindest zähneknirschend). Sie werden auch weiterhin keine Steuern für ihre in Europa erwirtschafteten Gewinne zahlen und sie werden weiterhin dafür sorgen, dass der Markt in viel größeren Teilen in ihre Hände gerät, erwähnt sei dabei Googles Waymo (autonomes Fahren – die deutschen Hersteller mit Ausnahme Volkswagen haben schon kapituliert), Amazon Go (Supermärkte ohne Personal) oder Facebook News.

Würden wir allerdings in Europa Plattformen wachsen lassen, die sich im Arbeitsrecht nicht als Plattformen, sondern als Arbeitgeber verstehen, die hier unseren Regularien unterliegen und die hier ihre Daten teilen und Steuern zahlen, so haben wir die Möglichkeit, einer digitalbipolaren Welt zwischen den USA und China zu entkommen und eine digitale Souveränität zu erlangen. Dafür müssen wir aber endlich aufhören, uns über die Auswüchse des Neoliberalismus zu unterhalten, sondern endlich der viel größeren Gefahr ins Auge schauen: dem Plattformkapitalismus amerikanischer und chinesischer Prägung.

Dieser Artikel ist eine Einführung in das Thema Plattformkapitalismus. In den folgenden Wochen und Monaten werden weitere, tiefergehende Artikel zu diesem Themenkomplex erscheinen.

Von Joel

Joel ist 21 Jahre alt, lebt in Wolfsburg und studiert Integrierte Sozialwissenschaften in Braunschweig. Seit 2017 ist er in der SPD und gehört seitdem auch der SPD-Fraktion Wolfsburg an. Politische Erfahrung durfte er als Werkstudent sowohl im Niedersächsischen Landtag, als auch bei einem großen Mobilitätsdienstleister sammeln. Interessant findet er Wirtschaft, Digitales und Gesellschaft.

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