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Gesellschaft

Gesundheit als Ware – Die Geschichte des Kinderkliniksterbens

Das Kind schreit aus Leibeskräften. Es ist mitten in der Nacht. Die kleine Stirn glüht, doch das letzte Zäpfchen gegen Fieber ist gerade mal drei Stunden her. Es bekommt vor lauter Husten kaum noch Luft. Man hält das weinende Kind in den Armen und wünscht sich sehnlichst Hilfe.

Das ist eine Situation, die wahrscheinlich alle Eltern kennen. Die Gedanken werden dominiert von Verzweiflung, Unsicherheit und Hilflosigkeit. Jetzt ist ärztlicher Rat gefragt. Doch in vielen Fällen stehen Eltern dabei mittlerweile vor dem nächsten Problem: Während neun von zehn Menschen in den Städten ein Krankenhaus binnen maximal 15 Minuten erreichen können, trifft das gerade in ländlichen Regionen auf nicht mal zwei Drittel zu. Eine besondere Schwierigkeit stellt hierbei die wohnortnahe medizinische Versorgung von Kindern dar. Durch die Fehlanreize des Systems der Fallpauschalen (DRGs) und die immer stärker fortschreitende Privatisierung von ehemals kommunalen Krankenhäusern ist in den letzten 30 Jahren mehr als jede fünfte Kinderklinik geschlossen wurden und knapp die Hälfte der Betten, die es noch 1991 in Deutschland gab, wurden inzwischen abgebaut. Verschärft wird die Lage, weil sich Krankenhäuser ohne pädiatrische Abteilung  häufig weigern, Kinder zu versorgen. Jedes Jahr werden mehrere solcher Fälle bekannt. Eltern haben dadurch häufig nicht nur die statistische Viertelstunde bis zur nächsten Klinik, sondern nicht selten sogar bis zu 45 Minuten. Doch das bringt Eltern auch dazu, abzuwägen, ob sie eine solche Fahrt ihrem kranken Kind mitten in der Nacht überhaupt zumuten können, vorausgesetzt sie verfügen überhaupt über ein eigenes Auto.

Was eine solche Abwägung für dramatische Folgen haben kann, zeigte erst dieses Jahr der Fall der kleinen Wilma aus Parchim. Ihre Eltern entschieden sich dagegen, mit ihrer kranken Tochter fast eine Stunde und über 50km überland bis nach Schwerin zu fahren. Unlängst vorher wurde die Kinderklinik in Parchim vom privaten Klinikkonzern Asklepios geschlossen. Doch Wilma hatte kein harmloses Fieber. Sie litt unter einer Blutvergiftung und einer gefährlichen Hirnhautentzündung. Die Kleine hat den Kampf gegen die Krankheit gewonnen, doch Spätfolgen sind nicht ausgeschlossen.

Dieser Fall steht symbolisch für etliche weitere. Auch der Kinder- und Jugendärzteverband beklagt ein Kinderkliniksterben. Sie sehen die stationäre medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen akut gefährdet. Als Gründe für den drastischen Rückgang der Kinderstationen sehen sie sowohl die Privatisierung des Gesundheitssystems als auch die Einführung der DRGs. Fakt ist, dass die Zahl der privaten Krankenhäuser in den letzten Jahren um 102% gestiegen ist, während sich öffentlichen Kliniken halbiert haben. Auch das System der Fallpauschalen steht schon seit Jahren in der Kritik. Deren Brisanz in den Kinderkliniken liegt darin, dass die Versorgung von Kindern deutlich vielschichtiger ist. Deshalb gibt es für Kinderabteilungen bis zu 500 verschiedene Fallpauschalen, während es bei der medizinischen Versorgung von Erwachsenen durchschnittlich nur 200 sind. Hier beginnen die Schwierigkeiten also schon bei der Einordnung der einzelnen Fälle. Außerdem sind die Personalkosten in der Kindermedizin circa eineinhalbmal so hoch wie bei Abteilungen für Erwachsene.

Wie das Beispiel der kleinen Wilma zeigt, ist medizinische Versorgung von Kindern häufig Notfallmedizin. Diese akut auftretenden Fälle sind kaum vorhersehbar. Zwar gibt es jahreszeitliche Häufungen, doch können die Fallzahlen der einzelnen Tage selbst in diesen Hochzeiten stark schwanken. Die Vorhaltekosten sind aus diesem Grund fast doppelt so hoch wie bei erwachsenen Patienten und werden vom bisherigen Vergütungssystem nicht berücksichtigt. So regte unter anderem die Techniker Krankenkasse jüngst eine Änderung der Krankenhausfinanzierung an. Ihr Vorschlag sieht eine Mischung aus Finanzierung der Vorhaltekosten, DRGs und qualitätsorientierten Zuschlägen vor.

Fachleute warnen schon länger davor, dass der massive Rückgang von Kinderkliniken gerade die besonders schutzbedürftigen, kleinsten Patient*innen beim Zugang zu Gesundheitsleistungen diskriminiert. So werden nicht nur Anfahrtswege und Wartezeiten immer länger, sondern die Reduzierung der Betten auf die Hälfte bei gleichzeitig steigenden Fallzahlen in der Kindermedizin sorgt auch dafür, dass eine stationäre Versorgung von Kindern unter Umständen hinausgezögert oder gar ganz abgelehnt werden muss, weil die Bettenkapazitäten nicht vorhanden sind. Jedoch stellen der Transport in einer andere, weiter entfernte Klinik oder gar eine stattdessen vorgenommene ambulante Versorgung auch immer ein Risiko für die kleinen Patient*innen dar, die ihre Symptome, im Gegensatz zu Erwachsenen, meist noch nicht klar definieren und beschreiben können.

Aus all diesen Gründen fordern nicht nur pädiatrische Fachverbände, sondern auch der Deutsche Ethikrat seit einiger Zeit einen Sicherstellungszuschlag für Kinderkliniken sowie eine Entkopplung der Kinder- und Jugendmedizin vom System der DRGs. Die diagnosebezogenen Fallgruppen wurden 2002 in Deutschland eingeführt und sind Grundlage eines leistungsorientierten Vergütungssystems, das auf pauschalisierten Preisen für jede Fallgruppe beruht. Lange blieben die Forderungen der Fachverbände von der Politik unberücksichtigt. Doch im Sommer 2020 nahm sich Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) diesem Thema an. Anlass hierfür war die Schließung der Parchimer Kinderklinik. Denn nicht nur, dass den politischen Akteuren die Hände gebunden waren; wie sich später herausstellte, wurde auch der vom privaten Klinikbetreiber Asklepios vorgeschobene Fachkräftemangel durch Kündigungen selbst herbeigeführt.

Neben der Kinder- und Jugendmedizin soll nach Ansicht Schwesigs auch die Kinderchirurgie aus den DRGs ausgegliedert werden. Sachsen-Anhalt schloss sich als erstes Bundesland der Bundesratsinitiative von Mecklenburg-Vorpommern an. In einem gemeinsamen Video fordern Saskia Esken (Vorsitzende der SPD) und Katja Pähle (Fraktionsvorsitzende der SPD in Sachsen-Anhalt) 390 Millionen Euro aus dem Block der Krankenhausfinanzierung vom Konjunkturpakt des Bundes speziell für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen aufzuwenden. Außerdem stehen die Reform der Fallpauschalen  und eine zuverlässige Finanzierung für innovative Strukturen der ambulanten und stationären Versorgung genauso im Fokus der beiden Politikerinnen wie eine bessere Ausbildung im Bereich der Kindermedizin und Kinderpsychiatrie verbunden mit einer stärkeren Bewerbung des Studiengangs, um den Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendmedizin noch abfangen zu können. Außerdem fordert Pähle eine höhere Sockelfinanzierung, um insbesondere Krankenhäuser im ländlichen Raum zu stärken und die Grundversorgung so sicherzustellen.

Bei der Einbringung des Antrags in den Bundesrat am 18.09.2020 sprach sich Manuela Schwesig für eine zügige Debatte dieses dringlichen Themas in den Ausschüssen aus, um am Ende einen von möglichst allen Bundesländern mitgetragenen Entschluss für eine zukunftsfähige finanzielle Aufstellung der Kinderkliniken zu haben.

Für die kleine Wilma und ihre Familie kommt dies jedoch zu spät. Sie haben sich dazu entschlossen, Parchim zu verlassen und in eine größere Stadt mit besserer medizinischer Versorgung für Kinder zu ziehen. Sie werden nicht die einzige Familie aus einem strukturschwachen ländlichen Gebiet sein, die eine solche Entscheidung getroffen hat. Und dabei braucht es gerade in diesen Regionen so dringend den Zuzug junger Familien.

Von Katharina

Katharina ist 30 Jahre alt und gelernte Köchin. Seit 2017 ist sie in der SPD und seit Anfang 2020 stellvertretende Vorsitzende der SPD Sachsen-Anhalt. Sie interessiert sich für Gesundheitspolitik und gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West.

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