Staatlich eingeholte Kirchensteuern, arbeitsrechtliche Sonderstellung von Kirchen und konfessionsgebundener Religionsunterricht an Schulen: der Säkularismus hat hierzulande, das zeigen diese Beispiele deutlich, einen schweren Stand. Doch nicht nur Deutschland selbst, auch die SPD als führende Volkspartei des Landes hat ein Säkularismus-Defizit. Leider. Denn in Zeiten wachsenden religiösen Fundamentalismus und anhaltend starken Einflusses kirchlicher Institutionen auf politische Entscheidungsprozesse bedarf es eigentlich starker säkularer Stimmen. Und dennoch: Die SPD hat das Potenzial, zur Plattform genau dieser Stimmen zu werden – wenn sie sich nur auf ihr eigenes Selbstverständnis besinnt. Ein Plädoyer für eine weltanschaulich-vielfältige Sozialdemokratie.
Wir schreiben das Jahr 2022. Eine bis auf wenige Ausnahmen restlos aufgeklärte Zeit, könnte man denken; eine Zeit, jedenfalls, in der eine enge Verflechtung von Staat und Kirche archaisch anmutet und religiöse Einstellungen unausweichlich aus der öffentlichen Sphäre verschwinden. Ja, so könnte man denken. Wirft man nämlich einen sorgfältigen Blick auf die gegenwärtige politisch-soziale Wirklichkeit, so zeigt sich: gänzlich säkularisiert oder gar post-religiös – das sind unsere Gesellschaften keineswegs.
Das Paradox der Religion
Da wäre die Macht der katholischen Kirche, die trotz sinkenden gesellschaftlichen Rückhalts beispielsweise in prominenter Position über Rundfunkangelegenheiten mitbestimmt, in Sachen Kirchensteuer tatkräftig vom Gemeinwesen unterstützt-, in puncto Arbeitsrecht mit deftigen Privilegien überschüttet- und in Sachen Sterbehilfe und Abtreibung als moralischer Ratgeber stilisiert wird. Zugleich zeigt sich jedoch auch ein von Teilen der Linken zwar oft verschwiegener, gesellschaftlich dafür aber umso bedrohlicherer Hang zu religiösem Fanatismus – vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, im Mantel radikal-islamistischer Gesinnungen. Religion lässt sich also, wohl oder (wie diese Beispiele vielmehr nahelegen) übel, nicht wegdenken aus der aktuellen Gesellschaft. Dabei sinkt die konfessionelle Bindung der Bundesbürger*innen in den letzten Jahren eigentlich deutlich, steigt die Zahl Nicht-Gläubiger rapide auf zuletzt mehr als 37%. Das Resultat? Eine tiefe Paradoxie: Einerseits prägt Religion die politische Tagesordnung und unser Institutionengefüge noch stets, andererseits sinkt ihre faktische gesellschaftliche Sogkraft zuletzt markant.
Volksparteien und Religion
Nun sind Demokratien natürlich immer von einer gewissen Widersprüchlichkeit geprägt. Die ist auch gar nicht weiter schlimm. Gibt es da doch Volksparteien, die im Angesicht solcher Widersprüchlichkeiten zu vermitteln versuchen und als Transmissionsriemen fungieren zwischen Staat und Gesellschaft. Allein: beim Thema Religion sind die hiesigen Volksparteien weder Mittler noch Verbindungsriemen – sondern inhärenter Teil des Problems.
Das trifft nicht nur auf die explizit christlich geprägten – und bei religionspolitischen Fragen daher meist ohnehin völlig kompromissunfähigen – Unionsparteien zu. Auch die SPD akzeptiert das weiterhin viel zu eng verwobene Verhältnis zwischen Staat und Kirche teils unhinterfragt. In ihrem Parteiprogramm, zum Beispiel, ist die SPD weiterhin am religionspolitischen Status quo verhaftet und setzt sich nur für wenige, oder nur wenig substanzielle Reformen ein. Und obwohl die SPD an der Spitze der Ampel mittlerweile nun doch Reformen anstrebt – wie etwa eine Neuregelung der Staatsleistungen an Kirchen – fehlt auch hier der große Wurf. So war es etwa die SPD, die sich gegen eine konsequente Abschaffung der arbeitsrechtlichen Sonderstellung der Kirche ausgesprochen und stattdessen lediglich eine gemeinsame Prüfung dieser Sonderstellung eingefordert hat. Dr. Sabrine Leider (Sprecherin des Arbeitskreises Säkularer Sozialdemokraten in NRW) hat insofern recht, wenn sie sagt, dass sich die SPD damit „de facto als verlängerter Arm der Kirchen – und eben nicht der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geriert“. Für eine Partei der Arbeit ist das ein bedauerliches Signal. Bedauerlich ist ebenfalls die Vertretung säkularer Stimmen in den Strukturen der SPD. Ebenso wie auf gesellschaftlicher Ebene, sind religiös ungebundene – Säkulare, Atheist*innen und Agnostiker*innen – zwar auch auf Ebene der Partei stark repräsentiert. Hinreichend Raum bekommt diese Gruppe in den Parteistrukturen der SPD oftmals gleichwohl immer noch nicht. Ein Arbeitskreis säkularer Sozialdemokrat*innen, zum Beispiel, wurde ungeachtet wiederholter Anstrengungen lange Zeit nicht offiziell anerkannt, mehr noch, von einigen hochrangingen Genoss*innen bisweilen schroff abgewiesen. Mit dem SPD-Parteitag von 11. Dezember soll ein solcher Arbeitskreis nun erfreulicherweise zwar doch formell eingerichtet werden. Die Mühe und Zeit, die es dafür gebraucht hat und die vielen Hürden, die es dafür zu überwinden galt, zeigen jedoch: Völlig gleichgestellt sind säkulare Sozis mit ihren religiösen Genoss*innen noch immer nicht. Die Paradoxie, die unsere Gesellschaft mit Blick auf Religion prägt – ihre sinkende Relevanz, gepaart mit ihrer fortdauernden Dominanz –, ist demnach auch in den Gremien und Strukturen der SPD mehr als präsent.
Kritische säkulare Stimmen waren und sind hier bisweilen nur parteiinterner Dorn im (sich anscheinend in Religion verguckt habenden) Auge einiger einflussreicher Sozis.
Bedauerlich ist das aus zweierlei Gründen.
Säkularisierung – jetzt!
Zum einen, weil ein offener, in der breiten Öffentlichkeit stattfindender Dialog über die Rolle von Religion eigentlich unabdingbar ist. Religiöse Fragen rücken nämlich zunehmend ins Zentrum politischer Aufmerksamkeit, wie unlängst wieder in Debatten um die Streichung des Paragrafen 219a sowie bei Themen wie Sterbehilfe, Genmanipulation, und zuletzt der Anerkennung queerer Identitäten im Zusammenhang mit der OutInChurch Kampagne über-deutlich wird. Letztere hat mit ihren mehr als 100 Unterzeichner*innen und ihrem breiten medialen Echo die grassierende Homophobie und Queerfeindlichkeit in den Strukturen der katholischen Kirche in ein bedrückend grelles Licht gestellt und eine „Kirche ohne Angst“ gefordert. Steigt in der Gesellschaft die Akzeptanz für sexuelle und geschlechtliche Minderheiten, so hängt die katholische Kirche nämlich noch immer einem mehr als antiquierten Menschen- und Gesellschaftsbild an: Gleichgeschlechtliche Paare dürfen nicht gesegnet werden, LGBTQ* Menschen haben mit persönlichen Ausgrenzungserfahrungen zu kämpfen, im Zweifel droht ihnen wegen ihrer sexuellen Identität gar die Kündigung. Denn aufgrund der oben bereits angesprochenen arbeitsrechtlichen Sonderstellung ist die Kirche an das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetzt nicht uneingeschränkt gebunden. In diesem Zusammenhang von hanebüchen zu sprechen, ist eigentlich noch maßlos untertrieben.
Dennoch wirft die OutInChurch Kampagne wichtige Fragen auf: Welche Rolle kann, welche Rolle soll Religion heute noch spielen? Was ist das Verhältnis zwischen Solidarität, Offenheit und Toleranz als Kernwerte einer Gesellschaft und religiösen Institutionen? Sind letztere beispielsweise wichtiger Kontrapunkt gegenüber neoliberalen Akteuren oder in ihrer teilweisen Missachtung des Arbeitsrechts vielmehr selbst Teil des Problems? Und: Wie ist es bestellt um das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Religionsgemeinschaften in unserer religiös immer pluraler werdenden Gesellschaft?
Diese Fragen müssen unbedingt gestellt, unbedingt adressiert werden. Die Aufgabe einer Volkspartei ist es, den hierfür notwendigen, gesamtgesellschaftlichen und vor allem kritischen Diskurs anzustoßen und produktiv zu kanalisieren. Andernfalls drohen diese Themen allein auf dem Terrain der Moral ausgetragen- und der zwanglose Zwang des besseren Arguments so mit dem Schlaghammer der Moral ersetzt zu werden. Umso wichtiger, solche Diskussionen zu entemotionalisieren, um das moralische Schlachtfeld zu einer politisch-demokratischen Arena werden zu lassen – zu der religiös gebundene und konfessionslose in gleichem Maße gehören. Dass das nicht immer passiert ist und sich die SPD in der Vergangenheit zu oft einseitig auf die Seite kirchlicher Stimmen gestellt hat ist schade und macht deutlich: Hier gibt es noch reichlich Nachholbedarf bei uns Sozen.
Zum anderen, weil die SPD die Partei des, wie Willy Brandt es nannte, ‚donnernden Sowohl-als-auch‘ ist – und religiös-weltanschauliche Vielfalt daher eigentlich fest zu ihrer politischen DNA gehört. Arbeitskreise religiöser Sozialdemokrat*innen sind wichtig, zweifellos. Gerade vor dem Hintergrund, dass die SPD seit Godesberg eben nicht mehr allein Anwalt der religiös ungebundenen Arbeiterschaft ist. Gerade vor dem Hintergrund, dass die CDU seither eben keine Monopolstellung mehr über katholisch geprägte Wähler-Milieus besitzt. Zu parteiinterner Vielfalt gehört es aber eben auch, die Interessen von Agnostiker*innen, Atheist*innen und anderen Gruppen gebührend zu berücksichtigen. Gruppen also, die sich oft keine Mehr, sondern ein Weniger an Religion im politischen Raum wünschen. Die SPD täte also gut daran, auch diesen Gruppen ausreichend Raum zu geben. Parallel zur oft vernachlässigten gesamtgesellschaftlichen Debatte muss das Thema Religion also auch innerparteilich breiter und mitunter kontroverser diskutiert werden.
Religion adé? Mitnichten
Wird hier für eine stärkere Säkularisierung der SPD plädiert, so ist damit jedoch explizit keine ‚Entreligiösierung‘ der SPD gemeint. Nein, diese stünde dem Selbstverständnis der SPD radikal entgegen und wäre mehr als kontraproduktiv. Nicht nur aus der Perspektive religiöser Sozialdemokrat*innen, die dann in neue parteipolitischer Heimatsuche geschickt, ja, vielleicht in die Hände anderer Parteien getrieben würden. Auch aus Sicht säkularer Sozis, die doch so viel lernen können von ihren religiösen Genoss*innen. Demnach geht es also weniger darum die SPD zur Klientelpartei der Gotteslästerer zu machen als vielmehr um eine zunehmende Sichtbarmachung bereits heute existierender säkularen Stimmen innerhalb der Partei. Denn so verständlich es auch erscheinen mag, den sozialen Gedanken religiös-spirituell zu verankern – notwendig ist der Nexus zwischen Religion und sozialer Idee nicht.
Zurück zu den (religionskritischen) Wurzeln?
In diesem Kontext lohnt ein Blick in die Geschichte der SPD im Besonderen und in die Geschichte sozialistischer und sozialdemokratischer Bewegung ganz allgemein. Religionskritik war lange Zeit nämlich Motor der sozialen Bewegung. Hier braucht man gar nicht Karl Marx und seine Idee von Religion als „Opium des Volkes“ aufzugreifen. – der Idee von Religion als Rauschmittel, um der von Unterdrückung geprägten wirtschaftlichen Realität zu entfliehen. Es reicht, auf einen von Marx‘ Zeitgenossen und Gründerväter der SPD zu schauen: August Bebel. Einige Jahrzehnte später als Marx prägte dieser den berühmten Ausspruch, dass sich Sozialismus und Christentum so verhielten wie Feuer und Wasser. Und zwar deshalb, weil sich Religion lange Zeit als Legitimationsgrundlage wirtschaftlicher Ausbeutung aufgetan und der sozialen Idee daher fundamental entgegenstand. Nur folgerichtig, dass die SPD in ihrem Erfurter Programm von 1891 für eine Trennung von Staat und Kirche eintrat und Religion zur Sache jedes und jeder* Einzelnen erklärte. Nun muss man Bebels Diagnose nicht zustimmen oder gar goutieren. Fraglich ist ebenfalls, inwiefern seine Diagnose noch auf unsere aktuellen Realitäten zutrifft. Aber: sie zeigt auf, dass es innerhalb der SPD eine tief verwurzelte, säkulare und religonskritische Tradition gibt, die es zu akzeptieren gilt.
Diese Akzeptanz ist kein rückwärtsgewandtes ‚back to the roots‘, sie ist kein Ausschluss religiöser Stimmen. Nein, sie ist schiere Notwendigkeit in unserer weltanschaulich immer vielfältiger werdenden Gesellschaft. Will die SPD ihrem eigenen Pluralitätsanspruch gerecht werden, sollte sie sich dessen vollständig bewusst sein und offener werden nicht nur für religiöse, sondern auch für säkulare Stimmen. Ganz im Sinne Brandts also – im Sinne des ‚donnernden Sowohl-als-auch‘.