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Grundsätzliches

Der Auftakt eines sozialdemokratischen Jahrzehnts

Heute vor einem Jahr haben wir Social Debates gegründet. Heute vor einem Jahr stand die SPD in den Meinungsumfragen zwischen 13 und 16 Prozent. Seit dem ist eine ganze Menge passiert, denn durch eine gute Kampagne, ein überzeugendes Programm und einen entschlossenen Kanzlerkandidaten gelang der Partei das Unmögliche: Der Wahlsieg. Doch diese Geschichte kennt ihr bereits. Denn der 26.09.2021 war nur der Auftakt für das worum es beim Wahlen immer geht: Aus Ideen Realitäten erwachsen lassen. Die Sozialdemokratie zeichnet sich dadurch aus sich auch in Regierungsverantwortung Inhalte nicht aus dem Blick zu verlieren, im Gegensatz zu anderen Kanzlerwahlvereinen. Auch wir haben uns mit den Inhalten des Koalitionsvertrags auseinandergesetzt, das Ergebnis lest ihr hier:

Moderner Staat und Demokratie

von Henrik

Das TL;DR der Einschätzung zum Kapitel „Moderner Staat und Demokratie“ lautet eigentlich für uns alle: JA. Bitte einfach endlich machen. Die Ampel will das angehen, woran vorherige Regierungen gescheitert sind: schnellere, digitalere, einfachere Verfahren in so ziemlich allem, was ein Staat so macht. Eine bessere, digitale Verwaltung für die Bürgerinnen und Bürger. Ein Staat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern so viele Behördengänge wie möglich erspart. Eine moderne Infrastruktur auf der Schiene, an den Datenleitungen, auf der Straße.

Das klingt zu schön, um wahr zu sein, und deshalb lohnt es sich bei diesen Themen sicherlich besonders, die Arbeit der Koalition aufmerksam zu verfolgen. Ein Teil des Kapitels ist besonders interessant: das was ich eben beschrieben habe, gelingt nur mit einem leistungsfähigen öffentlichen Dienst. Das wissen die Koalitionäre ganz genau und wollen den Öffentlichen Dienst daher deutlich attraktiver gestalten. Der Austausch von Personal zwischen den Behörden in Bund und Ländern soll einfacher werden, auch der Wechsel aus der Privatwirtschaft in den öffentlichen Dienst und zurück soll leichter werden. Die Berufserfahrung bei Einstellungsverfahren soll dafür in Zukunft anders gewichtet werden. Das verspricht mehr Dynamik und Kompetenz – und mehr Möglichkeiten für Arbeitnehmer:innen. Wenngleich hier kritisch zu beobachten ist, wie die Privatwirtschaft dann ihre Interessen im Öffentlichen Dienst unterbringt.

Der „Demokratie“ Part des Kapitels bringt ebenfalls vor allem wünschenswertes. Der Satz „Wir werden den Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung und -bestechlichkeit wirksamer ausgestalten.“ könnte so manchem Unions-Politiker noch Schwierigkeiten bereiten. Auch für die Demokratie nimmt der Koalitionsvertrag die Digitalisierung, beispielswiese bei Petitionsverfahren und Gesetzgebungsverfahren, stärker in den Blick. Ziel ist die Schaffung von mehr Beteiligung und Transparenz.

Im Kapitel versteckt sich außerdem die Unterüberschrift „Innovation, Wissenschaft, Hochschule und Forschung“. Dieser Abschnitt hätte mehrere eigene Artikel verdient. Die Koalition formuliert hier ambitionierte Kernziele, die Deutschland prägen werden, sollten sie umgesetzt werden. Moderne Technologien für eine klimaneutrale Industrie, eine nachhaltige Landwirtschaft, technologische Souveränität im Bereich der KI. Kurz: Deutschland wieder uneingeschränkt zu einem Technologieführer machen. Man hat sich viel vorgenommen. Wenn nur die Hälfte davon gelingt, ist für Deutschland und Europa schon viel gewonnen.

Wirtschaft & Digitales

von Joel

„Wir wollen mehr Fortschritt wagen“ – das gilt auch für eine neue Industrie- und Digitalpolitik. Da insbesondere das Thema Digitales ein Querschnittsthema ist und sämtliche Lebensbereiche umfasst, sind die Herausforderungen riesig.

Dass sich die Industrie wandeln muss, um wettbewerbsfähig zu sein, ist kein Geheimnis. Nachdem der größte Standortnachteil Deutschlands, die Union, nun in der Opposition ist, kann die Transformation der Industrie endlich mehr Geschwindigkeit aufnehmen. Im Koalitionspapier heißt es unter anderem, dass die Schlüsselindustrien wie die Automobilwirtschaft bei dem Umbau in eine nachhaltige und technologische Wirtschaft durch den Ausbau digitaler Infrastrukturen und der Unterstützung von KMU den Wettbewerbsstandort Deutschland zukunftsfähig machen sollen. Bis 2030 sollen unter anderem 15 Millionen Elektroautos auf der Straße sein. Das ist wichtig für gute Arbeit und gute Bezahlung. Deutschland soll außerdem zum Innovationslabor werden: Start-Up-Unternehmensgründungen sollen innerhalb von 24h abgeschlossen, Forschung in digitale Technologien wie KI und Co. massiv gefördert und erleichtert und das Beantragen notwendiger Formalien entbürokratisiert werden. Denn es muss alles schneller gehen, wir müssen die Wirtschaft schneller dekarbonisieren und unseren Standort digital wettbewerbsfähig machen. Plattformunternehmen wie Google oder Amazon sind riesige Player. Die Ampel will sich für gute Arbeit in der Plattformökonomie einsetzen (s. Plattformkapitalismus) und diese Giganten dazu verpflichten, Daten zu Forschungszwecken zu teilen und es damit jungen Unternehmen leichter ermöglichen, in der Asymmetrie der Plattformökonomie Fuß zu fassen und damit Wettbewerb zu stärken. Dies und vieles andere soll Deutschland zu einem der Technologiestandorte der Welt machen.

Neben der Digitalisierung der Wirtschaft soll auch die Verwaltung digitalisiert werden, Planungs- und Vergabeverfahren dadurch schneller ermöglicht werden, die Bildung wesentlich verbessert, digitale Bürger*innenrechte durch ein Recht auf Verschlüsselung und digitale Souveränität gestärkt und eine digital mündige Gesellschaft forciert werden.

Der Koalitionsvertrag erkennt in der Wirtschafts- und Digitalpolitik die Zeichen der Zeit und liefert Antworten auf diese: Nachhaltigkeit und Technologiesouveränität. Wir brauchen beides, um auch zukünftig wettbewerbsfähig zu bleiben und gute Arbeit gewährleisten zu können. Ob die im Koalitionsvertrag genannten Maßnahmen ausreichen, um diese Ziele zu erreichen, bleibt offen. Grund zu vorsichtigem Optimismus gibt es aber durchaus. Jetzt muss es losgehen.

Arbeit- & Soziales

von Max

Nach 16 Jahren unter Führung der Union waren die Änderungen am Sozialstaat nicht die angemessene Antwort auf die Weiterentwicklung unserer Arbeitswelt; eher waren die guten und wichtigen sozialdemokratischen Impulse notwendiges Korrektiv – nicht mehr und nicht weniger – oft verfälscht durch die Kompromisse des Kompromisses mit der CDU/CSU. Nun ist dieses Programm im Bereich der Arbeit und des Sozialstaates kein „Rot Pur-Programm“, sondern auch dieses Kapitel ist ein Kompromiss zwischen konkurrierenden Parteien. Doch eint alle das Ziel, dass der Status quo nicht weiter aufrechterhalten werden kann. Diese Zieleinheit macht die Verhandlungen deutlich konstruktiver als die Blockadehaltung der Konservativen. Aus meiner Sicht ist es dem Kapitel gelungen, Antworten zu finden, die der Zeit gerecht werden.

Da es nicht möglich ist, auf alle Details im Rahmen dieses Kommentars einzugehen, hebe ich zwei Themen heraus, auf die ich näher eingehen mag. Zunächst die Abkehr von Hartz IV, formell Arbeitslosengeld II, hin zu einem neuen System mit dem Namen Bürgergeld. Hier wird der Grundstein gelegt für ein System, in dem Staat und Bürger*innen auf Augenhöhe stehen. Es wird digitaler, flexibler und federt an den Stellen ab, an denen wir aktuell heftige Härten erleben. Bei der eigenen Wohnung, beim Schonvermögen und mit einem neuen Schwerpunkt auf Chancen und Eingliederung. Kinder fallen endlich aus einem System für Arbeitslose heraus und erhalten eine eigene, auf ihre Bedürfnisse abgestellte Grundsicherung. Es ist nicht perfekt, aber eine deutliche Verbesserung zum Status quo.

Für Stirnrunzeln hat bei vielen in der SPD – auch bei mir – die Flexibilisierung der Arbeitszeit gesorgt. Die Erfahrung im Bereich der Arbeitszeitregeln zeigen, wo immer man auch nur einen Spalt der Flexibilisierung ließ, wurde dieser in grotesker Weise zum Nachteil von Arbeitnehmer*innen ausgenutzt. Doch unsere Arbeitswelt wird komplexer und unsere Arbeit verändert sich stetig. Daher ist es richtig, diese Debatte zu führen und auszuloten, wie wir mit dieser Transformation umgehen. Wichtig ist, dass nur Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen eine Abweichung von der bisherigen Tageshöchstarbeitsdauer ermöglichen. Wir haben also mit Betriebsräten und Gewerkschaften wichtige Korrektive eingebaut, denen wir für diese Pilotphase das Vertrauen entgegenbringen sollten, zum Wohle der Arbeitnehmer*innen zu wirken. Am Ende erwarte ich allerdings, dass man eine ehrliche Evaluation vornimmt, inklusive der Option, eine Notbremse dort zu ziehen, wo neue Möglichkeiten missbraucht werden.

Es wartet viel Arbeit auf uns im Bereich Arbeit und Soziales und es ist nicht alles perfekt, aber es ist ein Kapitel, das Lust auf mehr macht. Also: Schüpp, Schüpp und quatsch nicht.

Klima, Energie, Transformation

von Jon

Die Klimapolitik war das dominierende Thema im Wahlkampf: Die SPD plakatierte Olaf Scholz als „Kanzler für Klimaschutz“, die Grünen schrieben „Am Klimaziel führt kein Weg vorbei“ und die FDP forderte zumindest, der Schulweg müsse wieder in die Zukunft führen, wenn er auch freitags noch immer eher zu Demonstrationen für eben diese Zukunft führen musste.

Aus einem großen Wahlkampfthema wurde ein großes Kapitel im Koalitionsvertrag. 146 Mal taucht das Wort „Klima“ darin auf und vorab sei gesagt: Das Kapitel ist gut. Wir haben viel erreicht.

Wenn auch nur „idealerweise“ beinhaltet der Fahrplan für die nächsten Jahre den Kohleausstieg bis 2030. Bis dahin sollen auch der Energiemix in Deutschland zu 80% aus erneuerbaren Energien bestehen und 15 Millionen Elektroautos zugelassen sein.

Einziges Manko: Erdgas als Brückentechnologie, bis wir 2045 Klimaneutralität erreichen wollen.

Zu kurz kommt bei allen Jahreszahlen auch das CO2-Budget. Ob wir 2030, 2050 oder 2100 klimaneutral werden ist so lange zweitrangig, wie wir die CO2-Menge nicht überschreiten, die uns über 1,5°C katapultiert. Gerade hier wäre auch mit der FDP vielleicht mehr möglich gewesen. Ob marktwirtschaftlich im Wege von Zertifikaten oder auf anderen Wegen, die vielleicht eher dem grünen Wahlprogramm entsprochen hätten, verbindliche Grenzen für den CO2-Ausstoß zu setzen wäre der vielleicht wichtigste Schritt gewesen, den die Ampelkoalition hätte gehen können und müssen.

Wir sind auf einem guten Weg. Wir haben viel erreicht, was in 16 Jahren Regierung unter der Union undenkbar gewesen ist. Aber „gut“ reicht nicht mehr, die Union ist nicht der Maßstab. Der Maßstab bleiben das 1,5°C Ziel und unsere Verpflichtungen aus dem Paris Agreement; jedenfalls der Koalitionsvertrag verfehlt diese bedauerlicherweise.

Die Chance ist da. Die Schritte sind die Richtigen. Sie müssen nur noch etwas größer werden und vier Jahre sind viel Zeit, den noch weiten Weg zu gehen, den der Koalitionsvertrag richtigerweise einschlägt.

Pflege & Gesundheit

von Katharina

es wird direkt verankert, dass der Bund dafür selbst 1 Mrd. Euro zur Verfügung stellt. Damit das kein Tropfen auf den heißen Stein bleibt, ist es um so wichtiger, dass auch die schon vor Corona herrschende Dramatik der Arbeitsbedingungen in der Pflege angegangen wird. Personalbemessungsgrenzen sind dafür ein wichtiger Schritt, der aber auch nur mit mehr Pflegekräften zu einer wirklichen Verbesserung für Personal und Patient*innen führt. Deshalb will man auch Maßnahmen ergreifen, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen, doch ob steuerfreie Zuschläge, Abschaffung der Teildienste, ein besser ausgestalteter Springer*innenpool (für den ja auch Personal da sein muss) und ein formaler Anspruch auf familienfreundliche Dienstzeiten ausreichen, bleibt abzuwarten. Auch das Ziel, die Lohnlücke zwischen Kranken- und Altenpflege zu schließen ist aller Ehren wert, doch wo bleibt die schon oft angekündigte Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen für die Pflege?

Ein Fortschritt ist dagegen, dass auch die ambulante Versorgung bisher aus finanziellen Gründen oft stationär behandelter Fälle in Zukunft besser vergütet werden soll. So werden nicht nur Pflegekräfte von unnötig gefüllten Betten entlastet, sondern das Wohlbefinden der Patient*innen steht damit auch an erster Stelle. Der Abbau von Hürden und die Erleichterung für die Gründung von medizinischen Versorgungszentren sowie eine engere Zusammenarbeit mit der kassenärztlichen Vereinigung, gerade in unterversorgten Regionen, ist ein wichtiger Beitrag, um in dünn besiedelten Gebieten die Versorgung aufrecht zu erhalten. Dass die aktuelle Situation in Kreißsälen hinterfragt, Fehlanreize korrigiert und eine 1:1-Betreuung durch Hebammen während der entscheidenden Geburtsphase eingeführt werden sollen, ist nicht nur richtig, sondern auch lange überfällig. Das Gleiche gilt für die Krankenhausfinanzierung, die dringend auf neue Füße gestellt werden muss. Dass hier in Zukunft Vorhaltekosten mit einfließen sollen, ist wichtig und die angedachte auskömmliche Finanzierung von Notfallversorgung, Geburtshilfe und Pädiatrie dringend nötig. Bei letzterer gab es in den vergangenen Jahren auf Grund der Fehlfinanzierung durch die Fallpauschalen (DRGs) ein regelrechtes Kinderkliniksterben. Umso ärgerlicher ist, dass es eine wenigstens teilweise Abschaffung der DRGs nicht in den Koalitionsvertrag geschafft hat und der gesamte Abschnitt zur Krankenhausplanung und -finanzierung eher schwammig bleibt.

Nahezu revolutionär ist auch, dass psychischen Erkrankungen ein kompletter Absatz gewidmet wurde und man sich endlich auch mit einer Veränderung der Drogenpolitik bei Cannabis befasst.

In diesem Kapitel finden sich viele wichtige Punkte wieder, doch an manchen Stellen hätte es gerne konkreter werden dürfen. Entscheidend wird jetzt sein, dass man schnell handelt, denn dem Gesundheitssystem läuft die Zeit weg.

Geschellschaft & LGBTQI*

von Felix

Ein gesellschaftspolitischer Quantensprung: So und nicht weniger radikal liest sich der Koalitionsvertrag der drei Ampelparteien. War die Gesellschaftspolitik der großen Koalition noch von konservativer Gestrigkeit geprägt, stehen nun nämlich grundlegende Reformen, ja, eine kleine gesellschaftspolitische Revolution ins Haus. „Mehr Fortschritt wagen“, so ist das Vertragswerk von rot-grün-gelb selbstbewusst überschrieben. Auf dem Feld der Gesellschaftspolitik werden die Koalitionäre diesem Anspruch jedenfalls mehr als gerecht:

Da wäre zunächst die längst überfällige Streichung des § 219a StGB (dem Werbe- und faktischen Informationsverbot für Schwangerschaftsabbrüche) zu nennen. Bisher war es Ärzt*innen so verboten, Informationen zu Abtreibungen öffentlich bereitzustellen – eine Schmach für Ärzt*innen und Betroffene gleichermaßen, der die Ampelkoalitionäre nun endlich ein Ende setzen.

Eine ähnliche Schmach auch war das sogenannte Transsexuellengesetz (TSG), welches eine standesamtliche Änderung des eigenen Geschlechts mit belastend hohen bürokratischen Hürden verband. Dieses schaffen die Ampel-Koalitionäre jetzt ab. Stattdessen führen sie ein ‚Selbstbestimmungsrecht‘ ein, welches Änderungen des Geschlechts generell per Selbstauskunft ermöglichen soll. Das diskriminierende, auf nicht weniger als staatliche Willkür fußende Blutspendeverbot für homosexuelle Männer und Trans-Menschen fällt nun ebenfalls weg – endlich, wenn auch eigentlich viel zu spät. Überdies sollen die Kosten geschlechtsangleichender Behandlung in Zukunft vollständig von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen werden. Kurzum: Hinter diesem Vertragswerk steckt ein „queerpolitischer Aufbruch“, wie der Lesben- und Schwulenverband unlängst verlautbarte.

Die darüber hinaus aufsehenerregendsten Projekte der Ampelparteien sind zum einen die Senkung des Wahlalters auf 16 und zum anderen die Legalisierung von Cannabis. Auch hier scheint die Ampel vom Paternalismus der christdemokratischen Ära abzurücken und sich an einen Paradigmenwechsel zu machen; einen Paradigmenwechsel, der jungen Menschen mehr demokratische Partizipation zutraut und stärker auf die Selbstbestimmung des Einzelnen setzt.

Wenn die Ampel von „Mehr Fortschritt wagen“ spricht, so meint sie dies im gesellschaftspolitischen Sinne, also konkret: Mehr Liberalismus, mehr Selbstbestimmung und mehr Autonomie wagen. Rundum positive und mutmachende Signale, denen nun konkrete Taten folgen müssen.

Innen & Recht

von Christopher

Im Bereich der Innen- und Rechtspolitik wird der Schwerpunkt innerhalb der nächsten Jahre wohl primär auf dem Ausbau der Digitalisierung liegen. Die bestehenden Sicherheitsbehörden sollen auch auf diese Art verstärkt werden. Die Bundespolizei wird unter der neuen Regierung auch weiter auf Quellen-TKÜ und Online-Durchsuchung verzichten müssen. Videoüberwachung wird es nur an Kriminalitätsschwerpunkten geben und nicht flächendeckend. Uploadfilter lehnt die Koalition ab. Bis hierhin erwartbar und wenig revolutionär. An einigen Stellen werden dabei allerdings wichtige Akzente gesetzt, wie die Errichtung von Polizeibeauftragten für die Bundespolizei oder die Öffnung für unabhängige Forschung. Der Rechtsextremismus wird klar als größte Bedrohung unserer Demokratie bezeichnet. Zusammen mit allen anderen Formen des Extremismus soll dieser in einer Gesamtstrategie aus Prävention und Gefahrenabwehr bekämpft werden. Vorgenommen wurde sich auch, in Zukunft Opfern und Hinterbliebenen von Terroranschlägen „empathischer“ und „würdiger“ entgegenzutreten. Ein dringender Punkt nach den blamablen Erfahrungen im Nachgang zum Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz. Der 11. März soll in Zukunft ein nationaler Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt werden. Spannend wird es bei der organisierten Kriminalität. Diese soll zwar ein Schwerpunkt für die Sicherheitsbehörden darstellen sowie sinnvolle und effektive Maßnahmen wie die Vermögensabschöpfung intensiviert werden, jedoch soll für die „sogenannte Clankriminalität“ erstmal eine „definitorische Klärung herbeigeführt“ werden. Man darf gespannt sein, was diese am Ende hergibt und ob nicht doch der Fokus dann leider verloren geht. Gerichtsverfahren sollen in Zukunft digitaler, bürgerfreundlicher und schneller werden. Dafür wird unter anderem die Musterfeststellungsklage weiterentwickelt werden. Kleinforderungen sollen in Zukunft in einem digitalen Verfahren einfacher durchsetzbar sein können. Nachdem die Corona-Pandemie und der Stand der technischen Verfügbarkeit viele deutsche Gerichte überrumpelt hat, wäre hier eine stärker einziehende Digitalisierung im Sinne der einfacheren Rechtsdurchsetzung wünschenswert. Auf dem Gebiet der Innen- und Rechtspolitik sind vielleicht nicht unbedingt die größten Meilensteine der nächsten Jahre zu erwarten. Wenn allerdings endlich die Digitalisierung auf diesem Gebiet forciert wird, könnte das viele Prozesse spürbar effizienter machen. Hier wird die Ampel beweisen müssen, ob sie die Digitalisierung des Landes tatsächlich deutlich voranbringen kann.

Außen und Sicherheit

von Julius

Nach Jahren der außenpolitischen Resignation und einer Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners verspricht die neuartige Ampelregierung eine Revitalisierung des Multilateralismus und eine Stärkung des wertebasierten deutschen Handelns auf dem internationalen Parkett. Die Aufgaben des Bündnisses sind gewaltig. Die kommende Regierung denkt in diesem Sinne klar globaler als ihre Vorgängerin: Im Koalitionsvertrag kommt beispielweise die weltweit größte Demokratie Indien genauso oft vor wie der enge Partner Frankreich, eine engere Bindung an Demokratien weltweit versprechend. Auch der Umgang mit systemischen Rivalen, wie China und Russland, knüpft an einen realistisch-normativen Leitfaden der auswärtigen Politik an. Eine neue Klarheit zieht ein. So sieht man die beiden Länder weiterhin als Partner an, jedoch sollen sogenannte strategische Abhängigkeiten in enger Abstimmung mit den Vereinigten Staaten vermieden werden. Die designierte Außenministerin Annalena Baerbock offenbart, dass Missstände, wie die Unterdrückung der Uiguren in Xinjiang oder der Abbau der Hongkonger Demokratie, künftig offener angesprochen werden dürften. Neben einer vereinbarten Kontinuität der internationalen Aktivitäten dürfte eine in dieser Weise reenergetisierte deutsche Außenpolitik enge Partner wie Frankreich und die USA positiv überraschen und Deutschland nach langer Zeit wieder aktiver in zwischenstaatliche Entwicklungen einbinden.

Anerkennend äußern sich Beobachter auch zu der künftigen Verteidigungspolitik der Ampelregierung. Schon im ersten Koalitionsjahr soll eine nationale Sicherheitsstrategie der deutschen Verteidigungspolitik einen neuen Rahmen stellen. Kernaufgaben der Bundeswehr werden pragmatisch und sicherheitspolitisch auf Höhe der Anforderungen einer modernen Streitkraft gestärkt. So werden die lange geforderten und für den Schutz im Einsatz befindlicher Soldaten unabdingbaren bewaffneten Drohnen endlich beschafft. Ein Bekenntnis zur nuklearen Teilhabe und eine indirekte Billigung des Kaufs hierfür benötigter neuer Kampfflugzeuge stärkt das transatlantische Bündnis und Deutschlands Position als Teil der unerlässlichen Abschreckungsstrategie der NATO. Das umstrittene Zwei-Prozent-Ziel wird nicht genannt, dafür werden zukünftig drei Prozent des Bruttoinlandprodukts für Diplomatie, Krisenprävention, Entwicklungshilfe und Militär ausgegeben. So darf sich die unter Unionsführung marode gesparte Bundeswehr eine Verstärkung ihrer Kapazitäten erhoffen. Internationale Verpflichtungen werden eingehalten und runden so ein anwendungsbezogenes und erfrischend ideologiearmes Kapitel zur Außen- und Sicherheitspolitik erfolgsversprechend ab.

Europa, Integration, Migration und Flucht

von Albana

Endlich! Endlich bekennt sich Deutschland offiziell zu einem föderalen europäischen Bundesstaat. Das sind auch längst Forderungen der JEF, dem größten proeuropäischen Jugendverband.

Die EU ist ein Ort, der transparent nach außen getragen werden muss. Darum muss die Arbeit des Rates transparenter werden. So kann Vertrauen der Bürger*innen aufgebaut werden. Auch die Rechtsstaatlichkeit, eine der wichtigsten Säulen Europas, muss konsequent durchgesetzt werden. Wenn wir das nach innen nicht schaffen, wie glaubwürdig sollen wir dann nach außen auftreten? Da die EU nicht immer mit einer Stimme als starke Akteurin nach außen auftreten kann, soll das Einstimmigkeitsprinzip im EU-Ministerrat in der GASP mit einer qualifizierten Mehrheit ersetzt werden. Eine echte „EU-Außenministerin“ in Zukunft wäre toll!

Weiterhin soll die Wirtschafts- und Währungsunion gestärkt werden. Mit „Next Generation EU“ soll dieses Instrument auch für die Zukunft ausgebaut werden. Investitionen in Bereichen wie der digitalen Infrastruktur oder Forschung und Entwicklung sind unabdingbar, um im internationalen Wettbewerb handlungsfähig zu bleiben. Europa, sei mutig! Wir wollen aber nicht nur ein modernes Europa, sondern ein soziales Europa, das soziale Ungleichheiten bekämpft. Beispielsweise muss endlich eine Lohngleichheit zwischen Frau und Mann gelten und das europaweit. Peinlich genug für ein Europa des 21. Jahrhunderts, dass dies noch nicht Realität ist!

Die Europäische Union ist zudem ein Ort des Wachstums, auch über ihre Grenzen hinaus. Die Unterstützung Albaniens und Nordmazedoniens in Richtung EU-Beitritt sowie die Visaliberalisierung für Kosova, wo längst alle Kriterien erfüllt sind, muss endlich vorangetrieben werden.

Nicht zuletzt sind die Bewahrung und Verteidigung der europäischen Freizügigkeit von hoher Bedeutung, denn sie gehört zu den zentralen Errungenschaften der EU. Während der Corona-Pandemie sahen wir ein Europa der Nationalstaaten. „Don’t touch my Schengen“ wird sich diesem immer entgegensetzen.

Integration, Migration, Flucht

Deutschland will einem modernen Einwanderungsland gerecht werden. Dabei soll die Beschleunigung von Visavergaben, die Ermöglichung von transnationaler Arbeitsmigration sowie das hochkomplexe Aufenthalts- und Bleiberecht beschleunigt werden. Auch ein stimmiges Einwanderungsrecht soll angestrebt werden. Zudem sollen neue Chance für Menschen, die bereits Teil der Gesellschaft sind, geschaffen werden.

Nichtsdestotrotz hat Deutschland ein extremes Bürokratisierungsproblem. Somit verzögert sich auch Integration, was vor allem junge, talentierte und engagierte Menschen zurecht frustriert. Schnellere Entscheidungen in Asylprozessen sowie eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung können diesem Problem entgegentreten, das stimmt! Der Satz „Nicht jeder Mensch, der zu uns kommt, kann bleiben“ hätte anders oder gar nicht formuliert werden müssen. Wenn wir nun als Europa eine gemeinsame Asyl-/Flüchtlingspolitik zu erreichen (Asyl ist Angelegenheit der Mitgliedstaaten), haben wir einen großen Schritt gewagt. Das, was zurzeit an den Grenzen Europas passiert, in Griechenland und Polen, ist Menschenverachtung pur. Frontex ist hierbei die größte Lüge Europas.