Categories
Außen & Europa

Pipelines und Politik: Kontroversen und Lösungsansätze um Nord Stream 2

Das politisch umstrittene Energieprojekt Nord Stream 2 wird von Befürwortern des Pipelinebaus oft mit dem Bedarf Deutschlands und der EU an günstigen Energieträgern gerechtfertigt. Die heimische Industrie sowie Privatverbraucher wären demnach auf Energieimporte aus dem außereuropäischen Umland angewiesen. Unter anderem soll Nord Stream 2 die Europäische Union mit Erdgas beliefern um die Versorgungssicherheit zu erhöhen, die Klimaschutzziele zu unterstützen und somit den Energiebinnenmarkt zu stärken. Gegner des Baus merken an, dass das Projekt die EU spalte, da mehrere Mitgliedsstaaten, so zum Beispiel Polen, Dänemark, Schweden und die baltischen Länder die Pipeline aus sicherheitspolitischen Gründen ablehnen. Auch die drei wichtigsten EU-Institutionen – die Kommission, das Parlament und die Mehrheit des Europäischen Rats – begründen ihre ablehnende Haltung in dieser Weise. Aber wird Nord Stream 2 tatsächlich nicht benötigt, und wenn doch: welcher alternative Umgang mit zentralen Problemen steht der EU und Deutschland offen? Ein Baustopp auf der Zielgeraden scheint eine ebenso schlechte Option wie eine Inbetriebnahme der Pipeline ohne auf grundlegende Verfehlungen des Projektes einzugehen. Wie so oft bedarf es zukunftsorientierter Handlungsansätze, die Probleme pragmatisch und lösungsorientiert angehen. Die Sozialdemokratie bietet sich seit den Zeiten Willy Brandts als Mittlerin zwischen Ost und West an und muss auch heute an ihre lange Tradition des außenpolitischen Ausgleichs und der kreativen und modernen Bewältigungsangebote für dringliche Problematiken anknüpfen.

Ein schlechter Deal für Europa?

2018 stellte Erdöl mit zwei Dritteln das größte Energieimportprodukt in die EU dar. Gas, dass nach Willen der Bundesregierung auch bald durch Nord Stream 2 fließen soll, folgte mit 24 Prozent. In diesem Jahr wurden mehr als die Hälfte des EU Bedarfs an Energieprodukten durch solche Importe gedeckt. Dieser Realitätszustand stellt die Mitgliedsstaaten vor das Dilemma, dass diese Abhängigkeit von systemischen Rivalen wie Russland politisch ausgenutzt werden könnte. Obwohl die Bundesregierung dies verneint, wird genau das auch vom engen Verbündeten USA bemängelt – der seine Ölimporte aus der Russischen Föderation bezeichnenderweise selbst stetig steigert. Die Interessenlage ist unübersichtlich. Während einige die Pipeline aus klimapolitischen Überzeugungen unterstützen, widersetzen sich manch amerikanische Akteure dem Projekt, neben realpolitischen geo-strategischen Überlegungen, auch aus geschäftlichen Anliegen. Der transatlantische Partner ist durch die ökologisch fragwürdige Fracking Technik zum energiepolitischen Global Player aufgestiegen und wüscht sich steigende Exporte von teureren verflüssigten Gas (LNG) in die EU. Im Kontext der Vergiftung des bekannten Oppositionellen Nawalny und der russischen Einflussnahme auf deutsche und inner-Europäische Politik werden auch hierzulande Stimmen lauter, die einen Stopp des Baus als Strafaktionsmöglichkeit gegenüber Russland sehen. Präsident Biden, flankiert von Außenminister Blinken, nennt Nord Stream 2 bekanntlich einen „schlechten Deal für Europa“ und steht auch im US Kongress parteiübergreifend unter Druck das Projekt auf den letzten Metern zu verhindern. Immer härter greifende amerikanische Sanktionen für beteiligte Partnerfirmen, etwa Unternehmen für Verlegetechnik, sorgen für bilaterale Verstimmungen – verständlicherweise. Außenminister Heiko Maas bekräftigt „Die US-Regierung missachtet das Recht und die Souveränität Europas, selbst zu entscheiden, wo und wie wir unsere Energie beziehen“. Kritik unter Freunden ist valide und erwünscht, ein Eingriff in souveräne Entscheidungen des engsten kontinentaleuropäischen Partners zeugt allerdings von außenpolitischen Hochmuts. Doch zeichnen sich Kompromissmöglichkeiten ab: auf Sanktionen gegen die Betreibergesellschaft verzichten die USA auf Rücksicht auf die Beziehungen zu Deutschland – ein erfrischender Kurswechsel nach den schädigenden Jahren der Trump-Präsidentschaft.      

Ein sinnvolles Wirtschaftsprojekt?

Klimaschützer merken an, dass neben politischen Überlegungen ein unwiderruflicher Schaden an Europas Klimazusagen und der ökologisch-energetischen Wende entstehen würde. Doch dieses Argument scheint verkürzt: Der Import von fossilen Energieträgern entscheidet sich nicht am Vorhandensein von Leitungsinfrastruktur, sondern an Vorgaben des europäischen Emissionshandels. Entsprechend des Reduktionspfads der MechanismenvereinbarterEmissionsabgaben wird vorausgesagt, dass die Nachfrage der Industrie nach Gas und Öl in den nächsten Jahren weiter zurückgehen wird. Schon seit geraumer Zeit fordern Politik und Wirtschaft den Ausbau der Nord-Südlichen Stromtrassen um aus Wind gewonnene Energie, kommend aus Norddeutschland und den skandinavischen Ländern, in die verarbeitenden südlichen Bundesländer zu leiten und so der neuen Nachfrage nach grünem Strom nachzukommen. Zweifellos sind erneuerbare Energien die zukunftstragende Lösung für den privaten und industriellen heimischen Bedarf, nicht nur um CO2-Reduktionsziele zu erreichen, aber auch um energetisch selbstragender zu werden. Gas kann als Brückenenergieträger den Kohle- und Atomausstieg abfedern, um Versorgungssicherheit zu garantieren. Politisch stehen Befürworter dennoch unter immer grösser werdenden Rechtfertigungsdruck. Doch ein Stopp der Pipeline dürfte Russland zwar verärgern, jedoch keinen größeren wirtschaftlichen Schaden anrichten. Das russische Gas ist zur Zeit weltweit konkurrenzfähig und könnte, zwar umständlicher, kurzfristig weiterhin auf anderen Wegen nach Europa wie nach Asien exportiert werden. Auch Kanzlerin Merkel verteidigt das Projekt in ähnlicher Weise, indem sie auf den rein wirtschaftlichen Character des Unterfangens verweist. Als Argument für den Rückzug der Politik aus den Geschehnissen um Nord Stream 2 scheint diese Logik jedoch teils verfehlt. Das russische strategische Interesse an direkten Exportwegen, auch um gegenüber eines breiteren Angebots an alternativen Energiequellen auf lange Sicht kompetitiv zu bleiben, sollte nicht unterschätzt werden. Im diesem Sinne sollten sich europäische Entscheider*innen ihrer Machtposition bewusst sein, durch das Projekt Einfluss auf Moskau auszuüben.

Ein hochpolitisches Unterfangen

Die Annahme, dass die Pipeline kein politisches Projekt sei, ist emblematisch für einen naiv-verwaltenden Ansatz der Außenpolitik. In der Größenordnung dieser Milliarden-schweren Baustelle ergeben sich zwingend geopolitische Überlegungen. Ist es beispielsweise vertretbar, ein Russland unter dem Autokraten Putin durch den Abschluss prestigeträchtiger Infrastrukturprojekte zu stärken und zu legitimieren? Oder ist die Fertigstellung von Nord Stream 2 ein wichtiges Mittel um Kommunikationskanäle zur russischen Föderation zu erhalten? In diesem Sinne stimmten auch die SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament gegen einen Baustopp. Bernd Westphal, Energiepolitischer Sprecher der SPD Bundestagsfraktion, stellt fest: „Auch zu Zeiten des tiefsten kalten Krieges oder der Annexion der Krim hat es keinen Einfluss auf Energielieferungen gegeben“. Wirtschaftliche Projekte haben so historisch auch zur zwischenstaatlichen Verständigung und Annäherung beigetragen. Trotzdem können vergangene und zukünftige völkerrechtswidrige Handlungen Russlands nicht unbeantwortet bleiben. Hier bedarf es innovativer Lösungsansätze, die europäische wirtschaftliche Interessen schützen und zu gleicher Zeit den EU weiten Konsens unterstreichen, dass ein „Weiter so“ im Blick auf ein aggressiver auftretendes Russland keine wünschenswerte Option sein kann.

Ein neuer Lösungsansatz

Dass Nord Stream 2 nicht nur die gerade so fragile trans-atlantische Partnerschaft belastet und über Jahrzehnte aufgebautes Vertrauen innerhalb der EU beschädigt, muss für Deutschland ein klares Zeichen sein. Ein so später Baustopp ist zwar nicht nur rechtlich eine schlechte Option und würde primär auch den europäischen Partnerfirmen schaden, gewisse Handlungsoptionen müssen aber erwogen werden. FDP wie Grüne fordern beispielsweise einen Baustopp durch ein Moratorium der Bundesregierung. Fakt ist aber, dass Russland seine Gaslieferungen selbst in Perioden größter politischen Spannungen nie gegen Deutschland und andere NATO Partner eingesetzt hat und Schadensersatzforderungen internationaler Investoren durch einen Stopp unumgänglich wären. Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, bringt eine politisch attraktivere Alternative ins Spiel. Ein Notbremsen-Mechanismus würde die Nutzung der fertiggestellten Pipeline an Zusagen der russischen Regierung, wie beispielsweise zur ukrainischen Gas-Transit-Infrastruktur, binden. EU Mitgliedsstaaten, die ihre momentan ablehnende Haltung mit Sicherheitsbedenken begründen, könnten durch konkrete Zusagen der Bundesregierung, den Gasfluss im Falle russischer völkerrechtlicher Vergehen zu unterbrechen, eingebettet werden. Zweifellos ist der auf Energieproduktexporte angewiesene russische Staat weitaus gebundener an neue, direkte und ungestörte Ausfuhrmöglichkeiten als Deutschland und die EU. Der Vorteil des Ansatzes liegt auf der Hand: der schwarze Peter würde von Berlin auf Moskau übertragen werden. Das Land wäre unter Druck politische Beteuerungen zur Ukraine wie zur EU einzuhalten um den Gas-Außenhandel aufrecht zu erhalten und so die hohen Kosten des Projektes innenpolitisch zu rechtfertigen. Die Stärkung der Integrität des europäischen Gasmarkts und die Nutzung von Nord Stream 2 schließen sich so nicht aus. Kurzfristig kann ein, durch die greifende Notbremse, gesunkenes Angebot auch durch weniger kosteneffiziente Importe, wie durch sich im Bau befindende LNG-Terminals, ausgeglichen werden. Eine wachsend diverser Energiemix sorgt für eine verbesserte Verhandlungsposition auf dem globalen Energiemarkt. Nord Stream 2 kann in dieser Weise, nebst der Befriedigung deutscher wirtschaftlicher Interessen, auch als wirksames Mittel in einer Strategie der außenpolitischen Repliken auf russisches Agieren bestehen. Die weitere Diversifizierung der EU Energieversorgung und der Ausbau erneuerbarer Energien tragen zusätzlich auch zukünftig zu einer geringeren Abhängigkeit von ungeliebten Ausfuhrländern bei. Vor allem aber muss eine engere Abstimmung mit den europäischen Partnern, den EU Institutionen und den Vereinigten Staaten der künftige Leitfaden für einen Umgang mit Nord Stream 2 sein. Die politischen Realitäten um Nord Stream 2 werden die deutsche und europäische Gesellschaft in den kommenden Jahren fordern und beschäftigen. Nun liegt es am Weitblick und Lösungsvermögen gewählter Politiker, die Pipeline wider aller Probleme zur Chance für den Klimawandel, eine wertebasierte Außenpolitik und für ein geeintes Europa auszuarbeiten.

Von Julius

Julius ist 20 Jahre alt und studiert Politikwissenschaften in Amsterdam. Er ist seit 2018 in der SPD und ist im Internationalen Ortsverband gemeldet. In Brüssel aufgewachsen setzt er sich für eine tiefer integrierte Europäische Union ein. Besonders interessiert ist er an Europa- und Außenpolitik.

Julius auf Twitter